Josefibichl
Stirn. Er war sicher, dass er aus den Mercedes-Limousinen genau beobachtet wurde. Daher mimte er den Vergesslichen, der noch einmal zum Lokal zurückmusste, um etwas dort Vergessenes zu holen.
Hätte Schneider gewusst, was der Mann in der vorderen Limousine in der Zwischenzeit über sein Kennzeichen herausgefunden hatte, hätte er sich über den Schlag auf den Hinterkopf, der ihn auf dem Rückweg zu seinem Schweinsbraten niederstreckte, nicht gewundert.
Um halb elf sah Bürgermeister Meier zu, dass er den Stammtisch auflöste. Es gab an diesem Abend nichts mehr zu besprechen, fand er, und da er nicht wollte, dass die anderen hinter seinem Rücken über ihn redeten, zwang er sie mit einem »So, meine Herren, morgen ist auch wieder ein anstrengender Tag für Leistungsträger wie uns« zum Aufbruch. Bezahlen musste die Runde nicht; der Wirt erhielt einmal pro Jahr über den Gesamtbetrag eine Parteispendenquittung.
Meier wollte unbedingt erfahren, was in dem schwarzen Bücherl in der Innentasche seiner Trachtenjacke stand. Er steuerte sein Rathaus an, parkte aber nicht auf dem Bürgermeisterparkplatz im Hof, sondern auf dem öffentlichen auf der anderen Seite der Straße vor der Buchhandlung. Dann schlich er sich in den Hof seiner Machtzentrale und blickte an der Einfahrt vorsichtig nach links und rechts und einmal hinter sich über die Rathausstraße, ob ihn auch niemand sah. An der linken Längsseite des Hofs führte eine Treppe ins Souterrain. Er sah zu seiner Zufriedenheit, dass noch Licht durch die winzigen Scheiben drang. Obwohl um diese Zeit außer dem Mieter der Souterrainwohnung niemand mehr im Rathaus war, klopfte er zaghaft an der Holztür. Er wartete eine halbe Minute. Als sich hinter der Tür nichts tat, klopfte er fester, woraufhin sich die Tür einen Spalt öffnete und das Gesicht des Hausmeisters zum Vorschein kam.
»Ali, du musst mir helfen.«
»Kommen Sie rein, Herr Bürgermeister«, erwiderte der unverhofft Besuchte und öffnete die Tür ein Stück weiter, sodass sein Dienstherr in den engen Flur huschen konnte.
Bürgermeister Meier hatte sich das Hausl-Kabuff, wie er die Wohnung nannte, viel schlimmer, enger und muffiger, vorgestellt. Doch es roch nach arabischen Gewürzen, die Wände waren mit farbenfrohen Mustern tapeziert, und wären Perserteppiche in deutschen Stuben noch modern gewesen, hätte Meier seinen Bediensteten um dessen Auslegeware beneidet. Noch nie war er selbst in der Hausmeisterwohnung gewesen.
Ali war bereits in den Achtzigern, lange vor der ersten Amtszeit Meiers, als Asylbewerber aus Afghanistan nach Garmisch-Partenkirchen gekommen und hatte vom Sozialamt die Stelle im Rathaus zugeteilt bekommen. Zunächst arbeitete er als Putzhilfe, dann entdeckte man seine technischen Fähigkeiten beim Reparieren von Elektrokabeln und Herrichten der ersten Computer, die in die Gemeindeverwaltung eingezogen waren. Auf den üblichen oberbayerischen Wegen, die den in einem arabischen Land üblichen Amtswegen in nichts nachstanden, konnte Meiers Vorgänger bewirken, dass der beim gesamten Personal äußerst beliebte Ali nicht 1989 nach Afghanistan zurückgeschickt wurde, als der Krieg dort vorübergehend beendet war.
Er hatte sich längst unentbehrlich gemacht, etwa bei der Wartung und Reparatur der alten Dampfheizung, die beim Neubau des Rathauses im Jahr 1935 eigentlich für eintausend Jahre geplant worden war, aber bereits in den kalten Wintern der Fünfzigerjahre Probleme gemacht hatte. Weitere vierzig Jahre später war das Monster einfach am Ende gewesen, doch dank Alis Techniktalent konnte der Investitionsantrag für eine neue Zentralheizung immer wieder nach hinten geschoben werden. Die dafür veranschlagte Summe wurde – so wie das für Kindergärten, Radwege und die Förderung junger Unternehmer in Garmisch-Partenkirchen dringend benötigte Geld – schließlich in den Neubau der Skisprungschanze gesteckt.
Die tausendjährige Dampfheizung war immer noch in Betrieb. Und Ali längst zum Hausmeister befördert. Sein Ingenieurstudium an der Universität von Kabul hatte sich also für ihn und den nordischen Skisport bezahlt gemacht.
»Wasser? Tee?«, bot Ali dem Bürgermeister an.
»Keine Zeit.«
Ali wunderte sich nach dreißig Jahren in Deutschland nicht mehr darüber, dass die Menschen hier die fundamentalsten Höflichkeitsregeln nicht beherrschten. Bereits in einem seiner ersten Briefe nach Hause an die Mutter hatte er analysiert: »Die bayerischen Menschen sind schlau. Sie
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