Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Josefibichl

Josefibichl

Titel: Josefibichl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
Vom Netzwerk:
schützen ihre Atemwege vor der kalten Luft, indem sie so wenig wie möglich sprechen. Sie grüßen nicht, halten mit dem Nachbarn auf der Straße keinen Plausch. Vielleicht wissen die bayerischen Menschen es gar nicht, aber diese ihnen von Kindheit an antrainierte Zurückhaltung hat noch einen viel wichtigeren Nebeneffekt: Wenn man mit seinem Nachbarn nicht spricht, kann man sich nicht mit ihm streiten, und es gibt keinen Bürgerkrieg. Die Menschen sind glücklich in Bayern.«
    »Ali, du kannst schweigen. Und das musst du auch. Zu keinem ein Wort. Du willst doch nicht nach Afghanistan zurück.«
    Dieser Drohung hätte es nicht bedurft, denn Ali war ein Muster an Loyalität. Er übersah großzügig auch diesen Fauxpas des Bürgermeisters, indem er im Ton des Verschwörers sagte: »Kein Wort, mein Bürgermeister.«
    Daraufhin griff Meier in die Jackentasche und zog das Bücherl hervor. »Lies vor!«
    Ali nahm die Kladde und schlug die erste Seite auf.
    »Das ist Arabisch«, sagte er.
    »Aber du bist doch Araber.«
    In Kabul wäre das für einen Paschtunen Anlass gewesen, zum Säbel zu greifen, doch Ali blieb freundlich. »Ich bin Afghane. Wir verwenden arabische Schrift. Aber unsere Sprachen, und es gibt davon über fünfzig, sind persischen Ursprungs.«
    »Das ist doch das Gleiche.« Der Bürgermeister bestand darauf, dass er in seinem Haus Ignorant sein durfte.
    »Stimmt fast«, erwiderte Ali beherrscht. »Wir dort unten machen alle jede Menge Ärger, und irgendwie geht‘s immer ums Öl, da haben Sie recht. Aber trotzdem: Arabisch ist eine semitische und Persisch eine indogermanische Sprache. Sie haben so viel miteinander gemein wie Deutsch und Chinesisch.«
    »Schafscheiß!«, blökte der Bürgermeister.
    »Sie haben aber Glück. Denn der Koran wird im Original auf Arabisch gelesen, und das habe ich in meiner Jugend ausführlich getan.«
    »Warum nicht gleich so?«, plärrte der Bürgermeister seinen Hausmeister in der Lautstärke eines sich aus der Alpspitz-Nordwand lösenden Felssturzes an.
    »Ich habe nie behauptet, dass ich das nicht lesen kann«, gab Ali zurück. »Ich habe nur gesagt, dass das Arabisch ist.« Offenbar weidete er sich an seiner Unersetzlichkeit. Dabei würde sich bestimmt noch jemand anders finden lassen, der Maier die Kladde übersetzen konnte, denn sicherlich wischte im Kreiskrankenhaus der eine oder andere geflohene iranische oder irakische Intellektuelle für einen Hungerlohn das Blut vom OP-Boden oder schrubbte die Klos. Aber an die Luft setzen konnte der Meier seinen Hausmeister nicht. Es sei denn, er und seine Ratsangestellten wollten im kommenden Winter in ihren Amtsstuben frieren.
    »Was – steht – drin?«, zischelte Meier.
    Ali blätterte vor und zurück und murmelte auf Arabisch-Paschtunisch-Deutsch-Bayerisch vor sich hin. Dann nahm er den Blick vom Buch und teilte lapidar mit: »Beobachtungen.«
    »Beobachtungen?« Hans W. Meier schwor sich, auf dem nächsten Rathaussommerfest beim Mitarbeiterfingerhakeln gegen den Hausl anzutreten. Dem würde er zeigen, wie man es anstellte, seinem Gegner mit einem geschickten Ruck die Haut von der Innenseite des Mittelfingers zu schälen. »Welche Beobachtungen?«
    »Ein Mann wird beobachtet. Wo er wann hingeht, was er dort tut, wie lange er bleibt, was er dann macht. Beobachtungen. Genaue Beobachtungen. Sehr genaue«, fasste Ali den Inhalt des Bücherls zusammen.
    »Ali . . . Geht‘s ein bissl konkreter?«, fragte der Bürgermeister und gab sich dabei einen demütigen Anschein, was nicht häufig vorkam.
    »St. Anton steht ab und zu in lateinischen Buchstaben im Text. Aber das haben Sie ja sicher selbst gesehen, Herr Bürgermeister.«
    Das hatte Meier natürlich nicht, weil er das Bücherl nur oberflächlich durchgeblättert hatte, um sich dann schnell die Hilfe des vermeintlichen Experten Ali zu holen.
    »Gibt es irgendeinen Hinweis, wer der Verfasser dieser. . . äh, Beobachtungen ist?«
    »Hm. Da müsste ich das Buch ganz durchlesen, das dauert sicher ein paar Stunden«, schätzte Ali. »Kommen Sie morgen früh wieder, dann sage ich Ihnen, was ich in Erfahrung bringen konnte.«
    »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, resignierte Meier. Der Moment der Schwäche währte nur kurz, dann hatte er sich gefangen und blitzte Ali aus zu Schlitzen verengten Augen an: »Ali, wenn du irgendjemandem etwas erzählst, bekommst du einen Freiflug mit der Deutschen Luftwaffe nach Kabul, das verspreche ich dir.«
    Er ließ seinen Hausl in dessen Flur

Weitere Kostenlose Bücher