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Josefibichl

Josefibichl

Titel: Josefibichl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
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nicht alle mit Schreibmaschine getippt, einige davon sogar in altdeutscher Sütterlinschrift verfasst, und mit dieser tat sich Hartinger besonders schwer.
    Um Mitternacht, als Kathi die zweite Thermoskanne Kaffee heraufbrachte und sich das ungleiche Historikerpaar von der Bettkante erhob, um die Rücken für ein paar Minuten gerade zu biegen, zog Albert Frey eine erste Zwischenbilanz des Aktenstudiums.
    »Man muss sagen, der junge Mann war fleißig. Er hat praktisch das ganze Marktarchiv im Rathaus ausgewertet, aber auch die anderen offiziell zugänglichen Quellen genutzt, wie zum Beispiel das Archiv des Richard-Strauss-Instituts. Einige Faksimiles stammen auch aus den Kirchenbüchern von Garmisch und Partenkirchen. Mir ist noch nicht klar, in welche Richtung er geforscht hat, denn bislang haben wir noch nicht mal eine Gliederung eines Aufsatzes oder etwas in der Art gefunden, den er vielleicht schreiben wollte.«
    »Vielleicht hat er sich einfach für alles interessiert, was in diesem Talkessel in den letzten paar Hundert Jahren passiert ist, ohne konkreten Hintergedanken«, sagte Hartinger und fügte, auf die Sammelwut Freys anspielend, hinzu: »So was soll es geben.«
    »Ja, das gibt‘s, aber es kann auch genau das Gegenteil der Fall sein«, meinte sein ehemaliger Lehrer. »Vielleicht interessierte den Mönch genau ein Aspekt oder Komplex, und er hat alles gesammelt, weil er sichergehen wollte, dass ihm dazu nichts durchrutschte.«
    »Aber ein Mordmotiv haben wir noch nicht«, stellte Hartinger fest.
    »Woher weißt du das? Vielleicht haben wir eins, vielleicht haben wir keins, vielleicht haben wir einhundert in der Hand gehabt in den letzten zwei Stunden. Was wir hier sehen, sind alte Akten, persönliche Aufzeichnungen, frühe Zeitungsartikel, Bilder und so weiter. Jedes dieser Dokumente ist Ergebnis menschlicher Beziehungen, vergiss das nicht. Und menschliche Schicksale haben sich in diesen Dokumenten niedergeschlagen. Da, schau dir doch mal diesen typischen Eintrag aus dem Repertorium Partenkirchen an.«
    Er reichte ihm einen Ausdruck, auf dem zu lesen war:
    1773 JUNI 26
    JOHANNES DEININGER, GASTGEB. ZU PARTENKIRCHEN MIT HSFR. WAEBURGA (MATTHIES NEINER, SCHULMEISTER IHR BEISTÄNDER), VERKAUFT DEM ANTONI LIDL, HÄNDLER MIT HSFR. KATHARINA, SEINE 1/2 BEHAUSUNG MIT KASTEN UND GARTEN »UNTER DEN FAUGGEN« ZWISCHEN BALTH. GÖBES ERBEN UND DAS HÖLZLEFELD GELEGEN UM 1000 FL UNTER CAUTION DES MELCHIOR GRÖBER ZUR HÄLFTE, WAS DESSEN VERTRETER DR. SATOR BEKRÄFTIGT. DIE EINE HÄLFTE ZINST GEGEN ANDREAS GÖBL, KISTLER JÄHRLICH zU UND L. FRAUEN GOTTESHAUS 24 KR., VON DER GANZEN BEHAUSUNG ABER SIND 2 TEILE ARCH AUF DEM ÄNGERL AM FAUGGEN WASSERRUNST ZU VERSORGEN.
    »Ich weiß, die Hälfte verstehst du nicht, Karl-Heinz«, sagte Albert Frey. »Weißt du überhaupt, was ein Repertorium ist? Lies es nach. Aber sei gewiss, ein Hausverkaufhat eine Vor – und eine Nachgeschichte, die die Schicksale von einigen Menschen beeinflussen. Oder hier, noch besser.«
    Er reichte seinem ehemaligen Schüler ein weiteres Dokument:
    1760 JAN. 27
VERGLEICH ZWISCHEN CASSIAN DIETL AUS TIROL UND KATHARINA BÄRTE ZU PARTENKIRCHEN WEGEN DEFLORATIONSANSPRUCHS, BESTÄTIGT DURCH DAS ARCHIDIAKONAT ROTTENBUCH. OR. PAR MIT 1 S. UND UNTERSCHRIFT.
    »Weißt du, was ein Deflorationsanspruch ist, Karl-Heinz?«, fragte Frey. »Das ist das, was du eigentlich der Kathi schuldest. Also nicht der hier von 1760, sondern deiner. Ich meine meiner. Na gut, unserer. Aber lassen wir das Thema für heute. Gab halt schon immer Hallodris wie dich. Kannst ja später mal googeln.«
    Hartinger ließ sich von den Seitenhieben nicht reizen. Defloration – so weit reichte sein Schullatein. Und seine Erinnerung an die erste Nacht mit der Kathi reichte dafür zu wissen, dass das keine astreine Defloration gewesen sein konnte. Da waren Vorkenntnisse vorhanden gewesen.
    Als Journalist, der sich zeit seines Berufslebens eher mit der Beschreibung der Gegenwart und allenfalls mit der unmittelbaren Vergangenheit beschäftigt hatte, war auch er mittlerweile gefangen von der Faszination, die von den alten Dokumenten ausging. Albert Frey hatte recht: Ein Geburtseintrag aus dem siebzehnten Jahrhundert war eine Zeile im Kirchenbuch, doch da hatten sich zwei Menschen geliebt – oder auch nicht –, das Leben der Eltern hatte durch die Geburt eine neue Richtung erhalten, der Mann hatte vielleicht eine andere Arbeit annehmen müssen als die, die ihm vorgeschwebt hatte, die Frau war

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