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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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waren zwanzigtausend doch geradezu lächerlich wenig. Morphium war wunderbar. Könnte er doch nur ständig Morphium nehmen, dann ginge es ihm bestens.
    Später stritt er sich mit Clarissa, weil sie Zafar erlaubt hatte, die Demonstration am Fernseher zu verfolgen. »Wie konntest du nur?«, fragte er. »Es ist einfach passiert«, erwiderte sie und setzte hinzu, dass er sich ja verständlicherweise über die Demonstration aufrege, nur solle er es nicht an ihr auslassen. Zafar kam an den Apparat und sagte, er hätte eine Puppe mit einem Pfeil im Kopf gesehen. Er hatte zwanzigtausend Männer und Jungen gesehen, die durch die Straßen marschierten, nicht in Teheran, sondern in seiner Heimatstadt, zwanzigtausend, die den Tod seines Vaters forderten. Er sagte: »Die Leute spielen sich auf, weil’s Fernsehen da ist; die finden, das sieht cool aus.« – »Tut’s aber nicht«, erwiderte Zafar. »Es sieht blöd aus.« Er konnte ein ganz erstaunlicher Junge sein.
    *
    Er sprach mit Gurmukh Singh, seinem Freund, dem Computerfreak, der eine brillante Idee hatte: Warum besorgte er sich nicht ein ›Mobiltelefon‹? Seit kurzem gab es so etwas. Man lud die Batterien und trug den Apparat mit sich herum, wohin man auch ging, und kein Mensch wusste, von wo aus man anrief. Wenn er eines dieser neuen Geräte hätte, könnte er seiner Familie, Freunden und Verlagsleuten die Nummer geben, ohne zu verraten, wo er sich aufhielt. Was für ein Geistesblitz, sagte er, das klingt wunderbar, fast nicht zu glauben. »Ich kümmere mich drum«, erwiderte Gurmukh.
    Das Mobiltelefon – lächerlich unförmig, ein Ziegelstein mit Antenne – traf bald darauf ein, und seine Begeisterung kannte keine Grenzen. Er rief alle möglichen Leute an und gab ihnen die neue Nummer, und sie riefen zurück – Sameen, Pauline und mehrmals auch sein Freund Michael Herr, Autor des Vietnamkriegklassikers An die Hölle verraten , der in London wohnte, sich ständig um ihn Sorgen machte und, was ihn betraf, vielleicht noch paranoider war als er selbst. Kazuo Ishiguro, dessen Roman Was vom Tage übrigblieb gerade erschienen war und sich großer Beliebtheit erfreute, rief an, um zu sagen, er finde, Die satanischen Verse sollte überall aufs Neue besprochen werden, diesmal von Schriftstellerkollegen, um das Augenmerk wieder in Richtung Literatur zu verschieben. Clarissa rief an, um sich mit ihm wieder zu vertragen. Ein irischer Autor, der von A. P. Watt vertreten wurde, jener Agentur, bei der sie arbeitete, erzählte ihr von irischen Bauarbeitern, die in Birmingham das Fundament für eine neue große Moschee legten. Als niemand hinsah, versenkten sie eine Ausgabe von Die satanischen Verse im feuchten Beton. »Diese Moschee«, sagte Clarissa, »wird also auf deinem Buch erbaut.«
    Michael Holroyd rief an, um ihm zu sagen, dass die große Demonstration seiner Meinung nach zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung geführt hatte. Wer auf den Barrikaden stand, stieg jetzt herunter, angewidert von dem, was man im Fernsehen sah, die Plakate, auf denen stand: TÖTET DEN HUND, RUSHDIE KREPIER, BASTARD und LIEBER STERBEN WIR, ALS DASS SO EINER LEBT , und der zwölfjährige Junge, der vor laufender Kamera erklärte, er sei persönlich bereit, dieses Arschloch umzubringen. Die Auftritte von Kalim Siddiqui und Cat Stevens taten ebenfalls ihre Wirkung. Zumindest fiel die Berichterstattung über diese Ereignisse zu seinen Gunsten aus. »Ich hasse es«, schrieb ein Kommentator in der Londoner Times , »wenn jemand zahlenmäßig derart unterlegen ist.«
    *
    An diesem so warmen Tag im Mai wurde er fast überall gesehen – in Genua und in Cornwall, in nahezu jedem Londoner Stadtviertel, auch bei einer Party in einem Haus in Oxford, vor dem Muslime protestierten. Der südafrikanische Schriftsteller Christopher Hope erzählte Clarissas Kollegen Caradoc King, er selbst sei auf einem Empfang in Oxford gewesen und habe dort den Unsichtbaren gesehen. Tariq Ali behauptete, an abgelegenem Ort mit ihm zu Abend gegessen zu haben. Nichts davon stimmte, sofern es nicht tatsächlich einen Phantom-Rushdie auf der Flucht gab, einen entlaufenen Schatten wie der aus Hans Christian Andersens großartigem, gruseligem Märchen, der seine Partytricks vorführte, während Joseph Anton daheim blieb. Der entlaufene Schatten, zuerst auf der Bühne des Royal Court im Stück Iranian Nights gesichtet, kam erneut im Titel eines zweiten Theaterstücks auf, diesmal von Brian Clark, dem Autor von Ist das nicht mein

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