Joseph Anton
Straßen überqueren.
*
»Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich erwachen will«, sagte Joyce’ Dedalus, aber was wusste der kleine Stephen Hero schon über Alb träume? Der schlimmste Albtraum, den er je erlebte, war, sich in Nighttown zu betrinken und mit Poldy nach Hause zu gehen, um das neue Bloomusalem aufzubauen und vielleicht noch vom gehörnten Bloom zur rattigen Molly geschickt zu werden. Das hier aber war ein richtiger Albtraum – blutrünstige Priester verschossen Pfeile der Vergeltung, und auf einer Demonstration sah er eine Puppe mit seinem Bild und einem solchen Pfeil im Kopf –, dabei schlief er gar nicht und war schon wach. Einer seiner Onkel in Pakistan, verheiratet mit der Schwester seiner Mutter, setzte eine Anzeige in die Zeitung, die im Wesentlichen besagte: Gebt uns nicht die Schuld, wir haben ihn sowieso nie gemocht , während seine Mutter, die sich noch bei Sameen in Wembley aufhielt, von seiner Tante zu hören bekam, dass die Pakistani sie nicht in ihrem Land wollten. Das war nicht wahr. Eher waren es seine Tante und sein Onkel, die die Verwandtschaft mit ihr peinlich fanden und sie nicht in ihrer Nähe haben wollten. Seine Mutter flog trotzdem zurück, und niemand ist über sie hergefallen. Manchmal erkundigten sich Bekannte im Basar, wie es ihrem Sohn gehe, und drückten ihr Mitleid aus: So eine schlimme Sache . Auch inmitten blutrünstiger Krawalle gab es also noch ein wenig Höflichkeit. Unterdessen befand er sich in der Obhut von Polizeibeamten mit Spitznamen wie Piggy, Stumpy, Fat Jack und Horse – er gewöhnte sich an die Namen, auch an die ständig wechselnde Mannschaft – und versuchte, einen Ort zu finden, an den sie ziehen konnten, wenn sie Porlock Weir verließen (die Holroyds hatten ihm großzügig erlaubt, weitere sechs Wochen zu bleiben, doch war die Zeit fast um). Passende Häuser waren schwer zu finden, vor allem, wenn man nur andere für sich suchen lassen konnte. Er selbst existierte nicht. Es gab nur Joseph Anton; und der durfte nicht gesehen werden.
Die Welt der Bücher schickte ihm weiterhin Botschaften. Bharati Mukherjee und Clark Blaise schrieben aus Amerika, um ihm zu sagen, dass man dort zum Zeichen der Solidarität stolz Ich bin Salman Rushdie -Sticker trage. Er wollte einen solchen Sticker. Vielleicht konnte Joseph Anton dieses Abzeichen aus Solidarität mit der Person tragen, die er war und zugleich nicht war. Gita Mehta erklärte am Telefon ein wenig scharfzüngig, »nicht Die satanischen Verse ist dein Lear , Scham und Schande ist dein Lear .« Und Blake Morrison sagte: »Viele Schriftsteller fühlen sich von der Affäre wie gelähmt. Schreiben kommt uns vor, als spielten wir auf der Fiedel, während Rom brennt.« Tariq Ali nannte ihn unfreundlich einen »Toten auf Urlaub« und schickte ihm den Text von Iranian Nights, einem Theaterstück, das er mit Howard Brenton für das Royal Court Theatre geschrieben hatte. Er hielt es für ein miserables, hastig zusammengezimmertes Slapstick-Stück, in dem all die Sticheleien gegen seine Arbeit vorkamen, die schon zum Allgemeingut verkommen waren. ›Es ist ein Buch, das man nicht lesen kann‹, bildete eine Art Leitmotiv. Zu den Themen, mit denen sich das Stück nicht befasste, gehörten: Religion als internationaler Terrorismus und politische Unterdrückung, die Unabdingbarkeit von Blasphemie (Autoren der französischen Aufklärung hatten Blasphemie bewusst als Waffe eingesetzt und der Kirche die Macht aberkannt, dem Denken Grenzen setzen zu können), Religion als ein Feind des Intellekts. Das waren die Themen, die er behandelt hätte, wäre es sein Stück gewesen, aber das war es nicht. Er war nur das Thema, der Verfasser eines unlesbaren Buches.
Wenn er jemanden besuchen konnte, fiel ihm auf, dass die Sicherheitsvorkehrungen – das Abschütteln, die zugezogenen Vorhänge, die Durchsuchung der Häuser von attraktiven Männern mit Waffen – oft stärker faszinierten als der Besuch selbst. Die lebhaftesten Erinnerungen seiner Freunde waren in jenen Tagen unweigerlich Erinnerungen an den Special Branch. Eine unwahrscheinliche Freundschaft zwischen Londons literarischer Welt und der britischen Geheimpolizei bahnte sich an. Die Bodyguards mochten seine Freunde, die dafür sorgten, dass sie sich willkommen und gut untergebracht fühlten, die ihnen zu essen gaben. »Sie haben ja keine Ahnung«, wurde ihm gesagt, »wie wir anderswo behandelt werden.« Politgrößen und ihre Frauen behandelten diese tapferen Männer
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