Joseph Anton
Flur schlugen Türen auf und zu. Dann eine Autotür, auf und zu. Er wurde fortgefahren. Als er nach Wimbledon kam, wartete Elizabeth mit ihrer Liebe auf ihn. Seine Eingeweide rumorten. Er ging ins Bad, um sich heftig zu übergeben. Sein Körper wusste, worin sein Verstand eingewilligt hatte, und sagte ihm, was er davon hielt.
Am Nachmittag fuhr er zu einer Pressekonferenz und versuchte, positiv zu klingen. Er gab Interviews für Radio und Fernsehen, mit Essawy und ohne ihn. Er wusste nicht mehr, was er sagte. Er wusste nur, was er sich selbst sagte. Du bist ein Lügner , sagte er. Du bist ein Lügner, ein Feigling und ein Idiot . Sameen rief an. »Hast du völlig den Verstand verloren?«, schrie sie. »Was glaubst du denn, was du tust?« Ja, du hast völlig den Verstand verloren , sagte seine innere Stimme. Und du hast keine Ahnung, was du getan hast, was du tust oder jetzt tun kannst . Er hatte so lang überlebt, weil er die Hand aufs Herz legen und jedes Wort verteidigen konnte, das er geschrieben oder gesagt hatte. Was er geschrieben hatte, war ernst gemeint gewesen; und alles, was er darüber gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Nun hatte er sich die Zunge aus dem Mund gerissen, hatte sich um die Möglichkeit gebracht, die ihm natürlichen Worte und Gedanken zu gebrauchen. Bis zu diesem Moment war ihm vorgeworfen worden, sich gegen den Glauben anderer Menschen vergangen zu haben. Nun warf er sich vor, sich gegen sich selbst vergangen zu haben, und befand sich schuldig.
Dann brach der erste Weihnachtstag an.
*
Er wurde zu Paulines Souterrainwohnung in Highbury Hill gefahren, und man holte Zafar, damit sie gemeinsam den Weihnachtsmorgen verbringen konnten. Einige Stunden später fuhr man Zafar zurück zu seiner Mutter, und er wurde mit Elizabeth zu Graham Swifts und Candice Rodds Haus in Wandsworth gebracht. Es war ihre zweite gemeinsame Weihnacht. Sie waren so freundlich wie immer, mieden es aber sorgsam, auf das kürzlich Geschehene anzuspielen, um die Weihnachtsstimmung nicht zu verderben, doch sah er die Sorge in ihren Augen, wie sie, das wusste er, die Verwirrung in seinen Augen sehen konnten. Am nächsten Tag wurde er zu Bill Bufords kleinem Haus in Cambridge gebracht, und Bill bereitete ihm ein Festmahl. Solche Momente waren Inseln im Sturm. In den nächsten Tagen hielten ihn die Journalisten in Atem, und seine Ohren wurden taub vom Lärm der Nachrichten. Er sprach mit der britischen, amerikanischen und indischen Presse sowie mit der persischen Sektion des BBC World Service und gab britisch-muslimischen Rundfunksendern Telefoninterviews. Er hasste jedes Wort, das ihm über die Lippen kam. Er wand sich an dem Haken, den er so bereitwillig geschluckt hatte; und ihm wurde schlecht. Er kannte die Wahrheit: Er war kein bisschen religiöser als noch wenige Tage zuvor. Der Rest war reines Kalkül. Und es funktionierte nicht mal.
Anfangs sah es anders aus. Der große Scheich von al-Azhar äußerte sich zu seinen Gunsten und ›vergab ihm seine Sünden‹; Kronanwalt Sibghat Qadri bat um ein Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt, um mit ihm über eine Anklageerhebung gegen Kalim Siddiqui zu reden. Nur der Iran zeigte sich unnachgiebig. Khamenei sagte, die Fatwa bliebe in Kraft, ›auch wenn Rushdie der frömmste Mensch aller Zeiten‹ würde, und eine Teheraner Hardliner-Zeitung legte ihm nahe, sich ›auf den Tod vorzubereiten‹. Pflichtschuldigst plapperte Siddiqui diese Äußerungen nach. Und dann begannen die Sechs von Paddington Green von ihrer Übereinkunft abzuweichen. Scheich Gamal verlangte, Die satanische Verse müsste gänzlich vom Markt genommen werden, obwohl er sich mit seinen Kollegen dagegen entschieden hatte. Gamal und sein Amtsbruder Scheich Hamed Khalifa wurden auf den Versammlungen in der Regent’s-Park-Moschee derart scharf kritisiert, dass sie unter dem Druck dieser Kritik ihre Positionen aufgaben. Die Saudis und Iraner äußerten sich ›verärgert‹ darüber, dass die ägyptische Regierung an diesen Friedensbemühungen beteiligt gewesen war, und Maghoub, der Gefahr lief, seinen Posten zu verlieren, wich nun ebenfalls vom Vereinbarten ab.
Am 9. Januar 1991, an Elizabeths dreißigstem Geburtstag, suchte ihn Mr Greenup auf, um ihm mit grimmiger Miene Folgendes mitzuteilen: »Wir gehen davon aus, dass die Lage für Sie nun noch gefährlicher geworden ist. Es sind verlässliche Hinweise auf eine spezifische Bedrohung eingegangen. Wir werden die Hinweise analysieren und Sie rechtzeitig
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