Joseph Anton
alle Vorgänge auf Erden und habe eine Meinung dazu. Nun, Ibn Ruschd konnte dies nicht glauben, was Du natürlich weißt, wenn Ghazali recht hat (nicht aber, wenn Ibn Sina oder Ibn Ruschd richtig lagen). Ghazalis Auffassung mache Dich zu sehr wie die Menschen, behauptete Ibn Ruschd – wie die Menschen mit ihren dummen Streitereien, ihren kleinlichen Differenzen, ihren trivialen Ansichten. Es läge unter Deiner Würde und würde Dich erniedrigen, allzu tief in menschliche Machenschaften hineingezogen zu werden. Was man denken soll, ist also nicht einfach. Bist Du der Gott des Ibn Sina und Ibn Ruschd, dann weißt Du gar nicht, was gerade in Deinem Namen alles gesagt und getan wird. Bist du aber Ghazalis Gott, liest Zeitung, siehst fern und bist parteiisch in politischen, gar literarischen Debatten, dann glaube ich nicht, dass Du ein Problem mit Die satanischen Verse oder sonst einem Buch haben könntest, und sei es noch so erbärmlich. Was wäre das für ein Allmächtiger, den die Werke eines Menschen erschütterten? Andererseits, lieber Gott, sollten Ibn Sina, Ghazali und Ibn Ruschd zufällig alle unrecht haben und Du gar nicht existieren, hättest Du auch in diesem Falle sicher kein Problem mit Schriftstellern oder ihren Büchern. Also komme ich zu dem Schluss, dass ich mit Dir, lieber Gott, keinerlei Probleme habe, sondern nur mit Deinen Dienern und Anhängern auf Erden. Eine berühmte Autorin gestand mir einmal, sie habe einige Zeit nichts geschrieben, weil sie ihre Fans nicht ausstehen könne. Ich frage mich, ob Du nicht wohl Verständnis für ihre Haltung aufbringst. Danke für Deine Aufmerksamkeit (und falls Du nicht existierst: siehe oben).
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Seine ›Muslimwerdung‹ brachte einige Leute im Außenministerium auf die Idee, ihn um seine Fürsprache für einen Terroristen zu bitten. Er erhielt eine Nachricht, die besagte, dass er sich im Fall Kokabi nützlich einbringen könne. Dem ›Studenten‹ Mehrdad Kokabi wurden Brandstiftungen sowie Bombenattentate auf Buchläden vorgeworfen, die Die satanischen Verse verkauften. Laut Anklage hatte man seine Fingerabdrücke auf dem Papier gefunden, in das zwei Rohrbom ben eingewickelt worden waren; außerdem waren mit seiner Kreditkarte bei den Anschlägen verwendete Autos gemietet worden. Es wäre doch, so wurde angedeutet, gewiss sehr nett, wenn der Autor von Die satanischen Verse in diesem Fall um Gnade bäte. Empört wandte er sich an Duncan Slater und David Gore-Booth. Sie hielten beide nichts von diesem Vorschlag. Das fand er ein wenig beruhigend, doch ließ man zwei Monate später alle Vorwürfe gegen Kokabi plötzlich fallen und empfahl, ihn in den Iran abzuschieben. Die Regierung leugnete, die blinde Justitia an die Hand genommen zu haben. Slater und Gore-Booth behaupteten, nichts darüber zu wissen. Kokabi kehrte in den Iran zurück, wo ihm ein heldenhafter Empfang bereitet wurde und er einen neuen Job bekam. Es oblag nun seiner Verantwortung, jene ›Studenten‹ auszusuchen, die einen Platz im Ausland bekamen.
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Die Fahnen seiner Essaysammlung Heimatländer der Phantasie wa ren gekommen. Bill sagte: »Da du den Text geschrieben hast, sollten wir ihn in diesem Buch auch veröffentlichen.« Er hatte in der Londoner Times die Zugeständnisse zu rechtfertigen versucht, die ihm in Paddington Green abgerungen worden waren. Er hasste den Artikel, dachte längst anders über alles, was er getan hatte, doch hatte er sich diesen Mühlstein nun einmal umgehängt und wurde ihn zumindest vorläufig auch nicht wieder los. Er gab Bill recht, und der Essay wurde unter dem Titel ›Warum ich ein Muslim bin‹ gedruckt. Seither sollte er die gebundene Ausgabe von Heimatländer der Phantasie nicht sehen können, ohne einen Dolchstich der Scham und des Bedauerns zu fühlen.
Der Krieg bestimmte jedermanns Gedanken, und wenn nicht wiederholt wurde, dass er die ›Beleidigung zurückziehen‹ müsse (sprich: das Einstellen aller weiteren Veröffentlichungen von Die satanischen Verse ), dann bekundeten die ›Führer‹ der britischen Muslime – Siddiqui, Sacranie, die Mullahs aus Bradford – ihr Mitgefühl mit Saddam Hussein. Es war ein strenger, kalter Winter, und es näherte sich der zweite Jahrestag der Fatwa. Fay Weldon schickte ihm, vielleicht als eine Art Tadel, Über die Freiheit von John Stuart Mill; er fand die klaren, starken Worte so erbauend wie eh und je. Die Verachtung für einige seiner starrköpfigen Gegner – etwa für Shabbir Akhtar und dessen Angriffe auf
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