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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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spaziert und hätte Blätter aufgewirbelt, kam es zu einem Sturm von Reaktionen. Sameen hörte am Radio, dass ›moderate Muslimführer‹ den Iran baten, die Fatwa zu annullieren. Britische Muslim-›Führer‹, mit denen er nicht gesprochen hatte, bestritten allerdings, mit ihm in Verhandlungen zu stehen. Der Gartenzwerg hüpfte an Bord eines Fliegers nach Teheran, um die Führung des Landes zu drängen, unnachgiebig zu bleiben, und sechs Tage später verkündete Mohammad Khatami – der Minister für islamische Kultur und Führung und spätere Präsident, die große liberale Hoffnung des Iran –, die Fatwa könne nicht zurückgenommen werden. Als er das hörte, rief er Duncan Slater an. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, der Iran wolle Gras über die Sache wachsen lassen«, sagte er. »Wir melden uns wieder«, erwiderte Slater.
    Er trat in Melvyn Braggs montäglichem Radiofrühprogramm Start the Week auf und nannte Essawy einen ›der führenden Muslime‹, die mit ihm einen Dialog begonnen hatten. Er sprach auf Nightline mit Ted Koppel und gab der Hoffnung Ausdruck, dass sich die Dinge besserten. Im Iran wurde erneut das Kopfgeld angehoben: immer noch eine Million Dollar für Iraner, doch nun drei Millionen für einen Nicht-Iraner, wenn er die Tat vollbrachte. Er redete mit Slater. Die New Yorker Vereinbarung war offenkundig wertlos. Die britische Regierung musste handeln. Slater war bereit, die Nachricht weiterzuleiten. Die Regierung handelte nicht. Im amerikanischen Fernsehen sagte er, er fange an, »sich ein wenig Sorgen zu machen, da die britische Regierung nicht auf diese neue Bedrohung reagiert«.
    Der Angler begann, den Fisch ins Netz zu ziehen. »Wir müssen ein Treffen vereinbaren«, sagte Essawy, »und Sie müssen erneut von Muslimen in die Arme geschlossen werden.«
    *
    Er beriet sich mit niemandem, bat niemanden um Rat oder Führung. Das allein hätte ihm sagen sollen, dass er nicht bei seinem völligen Verstande war. Normalerweise besprach er jede wichtige Entscheidung mit Sameen, Pauline, Gillon, Andrew, Bill und France. Er machte aber keine Anrufe. Er redete nicht einmal mit Elizabeth darüber, jedenfalls nicht richtig. »Ich versuche, das Problem zu lösen«, sagte er, fragte sie aber nicht, was sie davon hielt.
    Von anderer Seite kam keine Hilfe. Es war allein seine Sache. Er hatte für sein Buch gekämpft, und das würde er nicht aufgeben. Sein guter Ruf war sowieso schon dahin, so dass es nicht mehr darauf ankam, was die Leute von ihm dachten. Sie dachten bereits das Schlimmste. »Ja«, sagte er zum schleimigen Zahnarzt, »veranlassen Sie das Treffen. Ich komme.«
    Die Polizeistation Paddington Green war das sicherste Gebäude im Vereinigten Königreich. Oberirdisch sah es aus wie ein normales Polizeirevier in einem hässlichen Bürogebäude, das aber, worauf es ankam, lag unterirdisch. Hier wurden Mitglieder der IRA gefangen gehalten und verhört. Und an Heiligabend 1990 wurde er hierhin gebracht, um Essawys Leute zu treffen. Es hieß, man könne keinen anderen Treffpunkt gutheißen, so nervös war man. Als er Paddington Green durch die bombensichere Tür betrat und die endlosen Sicherheitsschleusen und Kontrollen über sich ergehen ließ, begann er selbst nervös zu werden. Dann betrat er den Sitzungsraum und verharrte wie erstarrt. Er hatte eine Diskussion am runden Tisch erwartet, vielleicht auch einige gemütliche Sessel, dazu Tee oder Kaffee. So naiv war er gewesen. Jetzt sah er, dass es ganz und gar nicht locker zugehen würde, dass man nicht einmal die Illusion einer Diskussion aufkommen lassen wollte. Sie kamen nicht als Gleichgestellte zusammen, um auf kultivierte Weise über ein Problem zu reden und eine Vereinbarung zu finden. Er galt nicht als einer von ihnen. Man wollte ihm den Prozess machen.
    Der Raum war von den ehrenwerten Muslimen als Justizsaal hergerichtet worden. Sechs Richtern gleich saßen sie in gerader Reihe an einem langen Tisch, ihnen gegenüber stand ein einzelner, geradlehniger Stuhl. Wie ein Pferd, das vor dem ersten Hindernis scheut, blieb er in der Tür stehen, doch Essawy kam auf ihn zu, flüsterte aufgeregt und sagte, er müsse hereinkommen, dies seien wichtige Herren, die sich eigens für ihn Zeit genommen hätten, er dürfe sie nicht warten lassen. Er möge sich bitte hinsetzen. Alle warteten nur auf ihn.
    Er hätte ihnen den Rücken kehren und nach Hause gehen sollen, fort von dieser Erniedrigung, zurück zur Selbstachtung. Jeder Schritt vorwärts war ein

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