Joseph Anton
passieren, sollte er nie bis in die Höhle des Löwen vordringen und C auch nicht kennenlernen. Er hatte es mit Offizieren aus den niederen Gefilden des Alphabets zu tun, gleichsam mit Kleinbuchstabenbeamten, auch wenn er einmal vor einer Versammlung von Großbuchstaben des Geheimdienstes sprechen durfte. Und zweimal traf er die Leiter des MI 5, Eliza Manningham-Buller und Stephen Lander.
Bei diesem ersten Mal, als er in ein Zimmer geführt wurde, das ein Konferenzraum in irgendeinem Londoner Hotel hätte sein können, erhielt er gute Neuigkeiten. Die ›spezifische Bedrohung‹ sei ›herabgestuft‹ worden. Also gebe es keine Frist mehr für seine Ermordung? Gab es nicht. Man habe, so wurde ihm mitgeteilt, die Operation ›vereitelt‹. Was für ein seltsames, interessantes Wort. Er wollte nach dieser ›Vereitelung‹ fragen, sagte sich aber: Frag lieber nicht . Dann fragte er doch. »Da wir über mein Leben reden«, sagte er, »finde ich, Sie könnten mir ruhig ein wenig mehr darüber erzählen, warum die Lage sich gebessert hat.« Der junge Beamte beugte sich mit freundlicher Miene über den hell schimmernden Holztisch. »Nein«, sagte er. Ende der Diskussion. Nun, nein war immerhin eine klare Antwort, dachte er plötzlich und unvermutet amüsiert. Der Quellenschutz hatte beim SIS absolute Priorität. Man würde ihm nur sagen, was sein Falloffizier für unbedingt notwendig hielt. Jenseits davon lag das Land ›Nein‹.
Angesichts der ›Vereitelung‹ der Absichten seiner Feinde war ihm einen Moment lang schwindlig vor Freude, doch in Hampstead Lane holte ihn Mr Greenup wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Bedrohung sei immer noch sehr groß. Gewisse Einschränkungen blieben bestehen. Er würde zum Beispiel nicht ›erlauben‹, dass man Zafar ins Haus brachte.
*
Er erhielt eine Einladung, zur Feier des zweihundertsten Jahrestages der Verkündung der Bill of Rights auf einer Veranstaltung der Columbia University in der Low Memorial Library zu sprechen. Er fand, er müsse von nun an solche Einladungen annehmen; er musste aus der Unsichtbarkeit auftauchen und seine Stimme wieder zu Gehör bringen. Er redete mit Frances D’Souza, ob man nicht Václav Havel bewegen könne, ihn nach Prag einzuladen, damit das Treffen, das die Briten in London verhindert hatten, auf Havels Territorium stattfinde. Wenn die Regierung Ihrer Majestät seinen Fall zu den Akten legte, würden sie die Kampagne zu seiner Unterstützung internationalisieren müssen, um Thatcher wie Hurd derart in Verlegenheit zu bringen, dass sie sich rühren mussten. Er würde jede Plattform nutzen, die sich ihm bot, um darauf hinzuweisen, dass sein Fall keineswegs einzigartig war, dass überall in der islamischen Welt Schriftsteller und Intellektuelle genau der gleichen Vergehen beschuldigt wurden wie er selbst, also der Gotteslästerung, der Ketzerei, der Verleumdung und Beleidigung sowie des Abfalls vom wahren Glauben, was nur heißen konnte, dass die besten, unabhängigsten, kreativsten Denker der muslimischen Welt entweder degeneriert waren oder dass diese Vorwürfe die wahren Absichten der Ankläger kaschierten, nämlich jede Andersgläubigkeit und abweichende Meinung im Keim zu ersticken. Wenn er dies sagte, dann nicht, wie manch einer andeutete, um für seinen Fall stärkeres Mitgefühl zu wecken und die eigenen ›Ausfälle‹ zu rechtfertigen. Es war schlicht die Wahrheit. Damit er dieses Argument jedoch nachdrücklicher vertreten konnte, erklärte er Frances, würde er Gesagtes ungesagt und seinen ›großen Fehler‹ ungeschehen machen müssen; und dies musste er laut und zu jeder Gelegenheit auf den sichtbarsten Plattformen mit größtmöglicher Öffentlichkeit tun. Frances hegte ihm gegenüber starke Beschützergefühle und fürchtete, dass er seine Lage so nur verschlimmerte. Nein, erwiderte er, schlimm wäre es, in jener falschen Lage zu verharren, die er für sich geschaffen hatte. Er musste auf die harte Tour lernen, dass die Welt kein mitfühlender Ort war, doch gab es auch keinen Grund, anderes zu erwarten. Das Leben war zu den meisten Menschen nicht sonderlich großzügig; eine zweite Chance wurde nur selten gewährt. Der Komiker Peter Cook hatte in den sechziger Jahren in seiner Bühnenshow Beyond the Fringe dem Publikum geraten, sich im Falle eines Nuklearangriffs vorzugsweise »nicht in der Gegend aufzuhalten, die angegriffen wurde. Halten Sie sich davon fern«, hatte er gewarnt, »denn das ist die Gefahrenzone, da
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