Joseph Anton
fallen die Bomben.« Die beste Möglichkeit, nicht unter dem mangelnden Mitgefühl der Welt leiden zu müssen, war natürlich, die Fehler gar nicht erst zu begehen. Er aber hatte seinen Fehler bereits begangen. Er würde alles nur Erdenkliche tun, um ihn zu berichtigen.
»Dies wird Konsequenzen haben, und wenn es den Tod bedeutet«, sagte der Sprecher des Rates der Moscheen in Bradford. »An dem Urteil, mit dem der Imam den Autor von Die satanischen Verse zum Tode verurteilte, ist nicht das Geringste auszusetzen«, sagte der Gartenzwerg. In Paris drang unterdessen ein Killerkommando in die Wohnung von Shapur Bakhtiar ein, dem im Exil lebenden Ex-Präsidenten des Iran und Gegner des Ayatollah-Regimes, um ihn und seinen Berater zu erstechen, eine Tat, die als ›Ritualmord‹ bezeichnet wurde.
In Moskau kam es zu einem Staatsstreich gegen Michail Gorbatschow, der drei Tage lang unter Hausarrest gestellt wurde. Als er freikam und zurück nach Moskau flog, warteten am Flugzeug Reporter, die ihn fragten, ob er nun die Kommunistische Partei auflösen wolle. Gorbatschow wirkte angesichts dieser Frage entsetzt, und in ebendiesem Moment zog die Geschichte (in Gestalt von Boris Jelzin) an ihm vorbei und ließ ihn in ihrem Kielwasser zurück. Er aber war es, und nicht Jelzin, Reagan oder Thatcher, der die Welt veränderte, als er der Roten Armee verbot, auf die Demonstranten in Leipzig oder sonstwo zu schießen. Viele Jahre später traf der ehemals Unsichtbare bei einem Spendendinner in London auf Michail Gorbatschow. »Rushdie!«, rief er. »Ich unterstütze all Ihre Positionen total!« Es kam sogar zu einer kurzen Umarmung. Wie, wirklich alle? , fragte er den Mann mit dem Landkartentattoo der Antarktis auf der Stirn. »Ja«, ließ Gorbatschow durch seinen Dolmetscher sagen. »Totale Unterstützung.«
Für seinen Freund Colin MacCabe beim BFI , dem Britischen Filminstitut, schrieb er eine Monografie über den Film Der Zauberer von Oz . Die beiden großen Themen des Films sind Heimat und Freundschaft, und beides brauchte er nötiger denn je. Er besaß Freunde, die mindestens ebenso treu waren wie Dorothys Gefährten auf dem gelben Ziegelsteinweg, und er sollte bald endlich wieder ein richtiges Zuhause bekommen, nachdem er drei Jahre lang auf Achse gewesen war. Begleitend zum Essay schrieb er die antijutopische Kurzgeschichte ›Auf der Versteigerung der roten Schuhe‹. Die Schuhe, die einen nach Hause bringen konnten, wann immer man wollte: Was aber hatten diese Dinge noch für einen Wert in einer gewalttätigen Science-Fiction-Zukunft, in der alles zum Verkauf stand und Heimat zu einem ›diffusen, schadhaften‹ Konzept verkommen war? Bob Gottlieb von The New Yorker gefiel der Essay, und er veröffentlichte einen Großteil, ehe der Text als BFI -Broschüre erschien. Meinhardt Raabe, der Schauspieler, der im Film den Leichenbeschauer im Land Munchkin spielte, las den Artikel in seinem Altenheim in Fort Lauderdale und schickte ihm einen Fan-Brief, dem er ein Geschenk beilegte: eine Farbfotografie von seinem großen Auftritt im Film. Er steht auf den Stufen des Rathauses in Munchkin, in den Händen eine große Schriftrolle, auf der in gotischer Schrift steht: STERBEURKUNDE . Darunter hatte Raabe mit einem blauen Filzstift sorgsam Salman Rushdie geschrieben. Als er seinen Namen auf der Sterbeurkunde aus dem Lande Munchkin sah, dachte er im ersten Moment: Soll das vielleicht lustig sein? Dann aber sagte er sich: Halt, ich verstehe, Mr Raabe verschickt aus seinem Altersheim Briefe an viele Menschen überall in Amerika, überall auf der Welt, er ist ein neuer Herzog, der seine Worte in den leeren Raum versendet, nur hat er an seinem Bett auch einen großen Stapel von diesen Bildern, die er jedem Brief beilegt. Das ist seine Visitenkarte. Er denkt nicht, oje, gegen diesen armen Kerl wurde ein Mordbefehl erlassen, vielleicht sollte ich also mehr Feingefühl an den Tag legen. Er schreibt, unterschreibt, verschickt. Das kann er.
Nachdem die Broschüre erschienen war, sagte ihm Colin MacCabe, viele Mitarbeiter des BFI hätten sich davor gefürchtet, mit einem Werk des notorischen Salman Rushdie in Verbindung gebracht zu werden. Colin war es gelungen, die meisten Befürchtungen zu zerstreuen. Die Broschüre kam heraus, und es flossen keine Ströme von Blut. Es war nur ein Büchlein über einen alten Film. Doch hatte er begriffen, dass er, ehe er selbst frei sein konnte, nicht nur die eigenen, sondern auch die Ängste anderer Menschen
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