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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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entschuldigte sich dafür, beim Dinner einfach so hereinzuplatzen und auch gleich wieder zu verschwinden. »In diesem freien Land«, sagte er, »bin ich kein freier Mann.« Die stehenden Ovationen trieben ihm die Tränen in die Augen, dabei war er niemand, den man leicht zum Weinen brachte. Er winkte dem Publikum zu, und als er aus dem Saal ging, hörte er John Cleese ins Mikro sagen: »Na klasse , wie soll ich den Auftritt toppen?« Natürlich war ein bisschen Selbstverherrlichung dabei. Die Bürgerschaft Londons aber war sicher in ihren Heimen und Betten oder saß wohlbehalten im Smoking am Tisch. Und Mr Greenup sollte er nie wiedersehen.
    *
    Der Engel des Todes schien in jenen seltsamen Tagen nie weit fort zu sein. Liz rief an: Angela Carter war mitgeteilt worden, dass sie keine sechs Monate mehr zu leben hatte. Zafar rief an, in Tränen aufgelöst: »Hattie ist tot.« Hattie, das war May Jewell, Clarissas anglo-argentinische Großmutter, die eine Vorliebe für breitkrempige Hüte besessen hatte und das Vorbild für Rosa Diamond in Die satanischen Verse gewesen war, vor deren Haus in der Pevensey Bay in Sussex Gibril Farishta und Saladin Chamcha nach ihrem Sturz aus einem explodierenden Jumbojet lebend im Sand landeten. Einige ihrer liebsten Geschichten – in London, in Chester Square Mews, hatte sie einmal den Geist eines Stalljungen gesehen, der auf den Knien zu laufen schien, bis sie begriff, dass er auf dem alten, tiefer gelegenen Straßenniveau ging und deshalb nur von den Knien aufwärts zu sehen war; in Pevensey Bay wäre – wie schon erwähnt – bei der normannischen Eroberung die einfallende Flotte durch ihr Wohnzimmer gesegelt, da sich der Küstenverlauf seit 1066 verändert hatte; in Argentinien kamen auf ihrer estancia in Las Petacas die Bullen und legten ihr den Kopf in den Schoß, als wären sie Einhörner und May Jewell eine Jungfrau, was beides nicht zutraf – hatten ihren Weg auf seine Seiten gefunden. Er hatte diese Geschichten sehr gemocht, ihre Hüte, sie selbst.
    Helen Hammington kam noch einmal vorbei, um ihm zu sagen, was die Polizei unter den neuen, liberaleren Regeln für ihn meinte tun zu können. So ließe sich gewiss arrangieren, dass er, nach vorheriger Absprache und nach Ladenschluss, einkaufen gehen konnte, Kleider oder Bücher. Vielleicht würde er ja gern auch eine Shoppingtour außerhalb Londons machen, etwa in Bath, dann könne er auch während der Geschäftszeiten gehen. Falls er Bücher signieren möchte, wolle man das gleichfalls ermöglichen, sofern dies außerhalb Londons geschah. Sein Freund, Professor Chris Bigsby, hatte ihn zu einem Vortrag an die Universität von East Anglia eingeladen; möglicherweise konnte er diese Art Einladungen nun annehmen. Gelegentliche Besuche im Covent Garden Opera House, der English National Opera oder dem National Theatre könnten ermöglicht werden. Sie wusste, dass er eng mit Ruthie Rogers befreundet war, der Mitbesitzerin des River Café in Hammersmith, vielleicht könnte er dort also einmal essen gehen, oder im Ivy, dessen Besitzer Jeremy King und Chris Corbin sicher helfen würden. Ach, und Zafar sei es von nun an nicht nur erlaubt , ihn zu besuchen; er dürfe auch die Nacht in der Hampstead Lane verbringen. Seit Mr Greenups Abgang hatte sich definitiv einiges geändert.
    (Was ihm nicht erlaubt wurde: öffentlich zu leben, sich frei zu bewegen, das normale Leben eines Schriftstellers, eines Mannes um die vierzig zu führen. Sein Leben wurde von einer strengen Diät regiert. Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt wurde, war verboten.)
    Am 11. November würden tausend Tage seit Bruce Chatwins Gedenkgottesdienst und der Verkündung der Fatwa vergangen sein. Er überlegte mit Frances und Carmel, wie sich dieser Tag politisch nutzen ließe. Man kam überein, eine zwanzigstündige ›Mahnwache‹ in der Central Hall in Westminster abzuhalten. Als dies bekannt wurde, rief ihn Duncan Slater an. Douglas Hurd, so Slater, verlange, dass die Mahnwache abgesagt werde, und drohte, dass man andernfalls – vielleicht sogar seitens der Regierung – der Kampagne zur Unterstützung Rushdies vorwerfen würde, sie verzögere die Freilassung der britischen Geisel Terry Waite. Michael Foot war stinksauer. »Wer Drohungen nachgibt, fordert zu Geiselnahmen heraus«, sagte er. Letztlich aber wurde die Mahnwache auf Bitten des Fatwa-Opfers abgesagt. Terry Waites Menschenrechten musste Vorrang vor seinen eigenen eingeräumt werden.
    Peter Weidhaas, Direktor

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