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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Geschichtsmensch, hätte sein können (was er aber nicht war). Als Rushdie ihm bedrückt erklärte, sein Vater bestehe darauf, dass er das Studienfach wechsle, fragte Dr. Broadbent: »Und was wollen Sie studieren?« Nun, natürlich nicht Wirtschaftswissenschaften; er hatte ein Stipendium für Geschichte, und Geschichte wollte er auch studieren. »Überlassen Sie das mir«, sagte Dr. Broadbent und schrieb Anis Rushdie einen freundlichen, doch ziemlich deutlichen Brief, in dem er darlegte, dass sich Anis’ Sohn nach Ansicht des College nicht zu einem Studium der Wirtschaftswissenschaften eigne und dass, sollte der Vater darauf beharren, es besser wäre, den Sohn von der Universität zu nehmen, damit er Platz für jemand anderen mache. Anis Rushdie verlor nie wieder ein Wort über Wirtschaftswissenschaften.
    Auch um die dritte Bürde sollte er bald erleichtert werden. Der Krieg auf dem Subkontinent ging zu Ende, und alle, die er liebte, waren in Sicherheit. Sein Universitätsleben konnte beginnen.
    Er tat das Übliche: schloss Freundschaften, verlor seine Jungfräulichkeit, lernte jenes geheimnisvolle Streichholzspiel kennen, das in L’année dernière à Marienbad vorkommt, spielte am Todestag von Evelyn Waugh eine melancholische Runde Krocket mit E. M. Forster, begann langsam, die Bedeutung des Wortes Vietnam zu verstehen, wurde weniger konservativ und von der Gruppe Footlights aufgenommen, war eine kleinere Leuchte unter illustren Illuminaten – Clive James, Rob Buckman, Germaine Greer –, sah, wie Germaine die Strippende Nonne gab, wie sie sich aus ihrem Habit wand und schlängelte, unter dem sie eine komplette Froschmannmontur trug, und dies auf der winzigen Klubbühne in der Petty Cury, einen Stock unter dem Büro der Chinesischen Roten Wachen, bei denen die kleine rote Mao-Bibel verkauft wurde. Er rauchte Gras, sah im Zimmer gegenüber einen Freund an verunreinigtem LSD sterben, sah einen anderen an einem Hirnschaden infolge von Drogenmissbrauch eingehen, lernte Captain Beafheart und Velvet Underground durch einen dritten Freund kennen, der bald nach dem Examen starb, genoss Miniröcke und durchsichtige Blusen, schrieb kurz für die Studentenzeitung Varsity , bis man sich entschied, auf seine Dienste verzichten zu wollen, trat in Stücken von Brecht, Ionesco und Ben Jonson auf und stürmte mit dem künftigen Kunstkritiker der Londoner Times den Trinity-Maiball, um Françoise Hardy ›Tous les garçons et les filles‹ singen zu hören.
    In seinem späteren Leben sprach er oft davon, wie glücklich er in Cambridge gewesen war, und hatte mit sich vereinbart, die Stunden erbärmlicher Einsamkeit zu vergessen, in denen er weinend allein auf seinem Zimmer hockte, obwohl direkt vor dem Fenster die King’s Chapel in all ihrer Schönheit prangte (das war in seinem letzten Jahr, als er im College selbst wohnte, Parterre, Aufgang S, in einem Zimmer mit einem Blick, wie es ihn prächtiger nicht geben konnte – Kapelle, Rasen, Fluss, Stocherkähne – ein Klischee, aber hinreißend schön). In diesem letzten Jahr war er bedrückt aus den Ferien zurückgekehrt. Der Sommer des Jahres 1967 ging zu Ende, der Sommer der Liebe, in dem man, flog man nach San Francisco, Blumen im Haar tragen sollte. Er aber war leider in London geblieben, ohne jemanden, den er lieben konnte. Nur zufällig befand er sich mitten im Zentrum dessen, wo, wie man damals sagte, ›es abging‹, wohnte in einem Mietzimmer über der gefragtesten Boutique schlechthin, über Granny Takes a Trip am World’s End der King’s Road. John Lennons Frau trug Röcke aus dieser Boutique.
    Mick Jagger, so die Gerüchteküche, trug ebenfalls Röcke aus diesem Laden. Auch hier erhielt er eine Art Ausbildung. Er lernte, nicht mehr ›fab‹ oder ›groovy‹ zu sagen. Bei Granny sagte man ›schön‹, wenn man vorsichtige Zustimmung zum Ausdruck bringen wollte, und wenn man etwas wirklich schön fand, sagte man ›echt nett‹. Er gewöhnte sich an, oft weise mit dem Kopf zu nicken. Bei seinen Versuchen, cool zu wirken, half es, dass er Inder war. »Indien, Mann«, sagten die Leute. »Abgefahren.« – »Yeah«, erwiderte er nickend. »Yeah.« – »Der Maharischi, Mann. Schön.« – »Ravi Shankar, Mann«, antwortete er. Spätestens jetzt fielen den meisten keine Inder mehr ein, über die sie noch reden konnten, weshalb alle nur noch glückselig nickten. »Klar, Mann, klar«, sagten sie. »Echt klar.«
    Eine noch tiefer gehende Lektion lernte er von der jungen

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