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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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von Noel Annan. Lord Annan, Collegerektor und sonore Kathedrale von einem Mann, dessen Kuppel dies war, stand in all seiner kaltäugigen, fettlippigen Glorie vor ihm. »Sie sind hier«, sprach Annan zu den versammelten Erstsemestern, »aus drei Gründen: Intellekt! Intellekt! Intellekt!«, und stach beim Aufzählen dieser Gründe nacheinander drei Finger in die Luft. Ein wenig später überbot er in seiner Ansprache selbst dieses Aperçu. »Das Wichtigste werden Sie nicht in den Vorlesesälen, Bibliotheken oder Seminaren lernen«, intonierte er, »sondern dann, wenn Sie spätabends miteinander auf den Zimmern hocken und sich gegenseitig befruchten.«
    Im September 1965, mitten in einem Krieg, im sinnlosen Indien-Pakistan-Konflikt, hatte er seine Heimat verlassen. Um Kaschmir, diesen ewigen Zankapfel, war ein fünfwöchiger Krieg entbrannt, in dessen Verlauf fast siebentausend Soldaten starben und an dessen Ende Indien dem pakistanischen Territorium tausendachthundert Quadratkilometer und Pakistan dem indischen Nachbarn fünfhundert Quadratkilometer abgerungen hatte, womit jedoch nichts, wenn nicht weniger als nichts erreicht worden war. (In Mitternachtskinder ist es dieser Krieg, in dem ein Großteil von Saleems Familie durch Fliegerbomben getötet wird.) Einige Tage wohnte er bei Verwandten in London in einem fensterlosen Zimmer. Über Telefon konnte er daheim niemanden erreichen, und Telegramme von Indien, hieß es, brauchten drei Wochen, um anzukommen. Es gab keinen Weg herauszufinden, wie es seiner Familie ging. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als den Zug nach Cambridge zu nehmen und zu hoffen. Er erreichte das King’s College Market Hostel in ziemlich schlechter Verfassung, und die Angst, die vor ihm liegenden Universitätsjahre könnten eine Wiederholung der größtenteils unglückseligen Jahre in Rugby bedeuten, trug nichts zur Besserung seiner Gemütslage bei. Er hatte darum gebeten, nicht nach Cambridge geschickt zu werden, obwohl ihm bereits ein Studienplatz zugesprochen worden war. Er wolle nicht nach England zurück, sagte er, wolle nicht noch mehr Jahre seines Lebens unter Menschen kalt wie Fisch verbringen. Könne er nicht daheim bleiben und mit warmblütigeren Kreaturen aufs College gehen? Anis, selbst Cambridge-Absolvent, redete ihm zu, dennoch hinzufahren. Und dann sagte er, er müsse sein Studienfach wechseln. Geschichte, das hieße drei nutzlos vergeudete Jahre. Er müsse dem College mitteilen, dass er zu Wirtschaftswissenschaften wechseln wolle. Daran war sogar eine Drohung geknüpft: Falls er das nicht tat, käme Anis nicht länger für die Gebühren auf.
    Bedrückt von den drei Bürden einer unerfreulichen englischen Jugend, Wirtschaftswissenschaften und Krieg, war es ihm am ersten Tag am King’s unmöglich, aufzustehen. Sein Körper fühlte sich bleiern an wie nie, fast als wollte die Schwerkraft selbst ihn zurückhalten. Mehr im Bett als außerhalb, ignorierte er gelegentliches Klopfen an der Tür seines seltsam skandinavisch modernen Zimmers. (Es war das Jahr, in dem die Beatles- LP Rubber Soul herauskam, und oft summte er ›Norwegian Wood‹ vor sich hin.) Am frühen Abend aber trieb ihn ein besonders nachhaltiges Klopfen dann doch aus den Federn. An der Tür stand, ein breites Old-Eton-Grinsen im von welligem Rupert-Brooke’schen Blondhaar gerahmten Gesicht, ein erbarmungslos fröhlicher Jan Pilkington-Miksa – ich bin halb Pole, weißt du –, sein Begrüßungsengel am Tor zur Zukunft, der ihn auf einer Woge lautstarker Gutmütigkeit in ein neues Leben führen sollte.
    Jan Pilkington-Miksa, eine sehr platonische Ausgabe des englischen Internatjungen, sah genauso wie all die Kreaturen aus, die ihm das Leben in Rugby so unangenehm gemacht hatten, dabei war er ein von Natur aus überaus freundlicher junger Mann, der ihm wie ein Zeichen dafür geschickt worden zu sein schien, dass die Dinge sich diesmal besser entwickeln sollten. Und das taten sie; Cambridge würde viele jener Wunden heilen, die Rugby ihm zugefügt hatte, und ihm zeigen, dass es ein anderes, attraktiveres England gab, in dem er sich ohne weiteres daheim fühlen konnte.
    So viel also zur ersten Bürde. Was nun die Wirtschaftswissenschaften anging, wurde er von einem zweiten Begrüßungsengel gerettet, Studienleiter Dr. John Broadbent, Don für englische Literatur, der so herrlich groovy war, dass er glatt das Vorbild für den supercoolen und sehr freisinnigen Dr. Howard Kirk, dem Helden von Malcolm Bradburys Roman Der

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