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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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einem Kleiderschrank versteckt hielt und, als seine Familie umziehen musste, als alte Frau verkleidet durch die Straßen ging, deren Bürgermeister er einst gewesen war –, hatte er einen deutschstämmigen Fotografen namens Gustavo Thorlichen getroffen, einen großen, gut aussehenden Mann mit Raubvogelprofil, glattem, silbergrauem Haar und drei guten Geschichten in der Tasche. In den Exilantenkreisen von Mijas wurde gemunkelt, er sei wohl ein Ex-Nazi, weil er in Südamerika gelandet war. Tatsächlich war er in den Dreißigern nach Argentinien gegangen, um den Nazis zu entkommen. Eines Tages war er in Buenos Aires aufgefordert worden, Eva Perón zu fotografieren, als »einer von vier Fotografen, dem diese Ehre zuteil wird«, so Peróns Berater am Telefon. Er holte tief Luft und entgegnete: »Danke für diese Ehre, doch wenn ich Fotos machen soll, sollten Sie mich bitten, allein zu kommen, andernfalls muss ich ergebenst ablehnen.« Es herrschte Schweigen, dann sagte der Berater: »Für das, was Sie gerade gesagt haben, könnte man Sie des Landes verweisen.« – »Wenn dem so ist«, erwiderte Gustavo, »sollte ich sowieso besser gehen.« Er legte auf, ging ins Schafzimmer und sagte zu seiner Frau, »Pack unsere Sachen.« Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon abermals und derselbe Berater sagte: »Evita wird Sie morgen früh um elf empfangen, allein.« Er wurde zu Eva und Juan Peróns persönlichem Fotografen, und das berühmte Porträt der toten Evita sei, so behauptete er, von ihm.
    Das war die erste gute Geschichte. Die zweite erzählt davon, wie er in La Paz mit dem jungen Che Guevara umherzog, der ihn in seinen Motorcycle Diaries als ›großen fotografischen Künstler‹ bezeichnet. Die dritte handelte davon, wie er als junger, gerade angehender Fotograf in einer Buchhandlung in Buenos Aires stand und in dem sehr viel älteren Mann, der in den Laden schlurfte, Jorge Luis Borges erkannte. Er nahm all seinen Mut zusammen, ging auf den berühmten Schriftsteller zu und sagte, er arbeite gerade an einem Fotoband, einem Porträt von Argentinien, und würde sich sehr geehrt fühlen, wenn Borges das Vorwort dazu schriebe. Einen blinden Mann um das Vorwort zu einem Bildband zu bitten, war natürlich verrückt, er tat es dennoch. »Gehen wir ein paar Schritte«, sagte Borges. Auf ihrem Spaziergang durch die Stadt beschrieb Borges die Gebäude rings herum mit fotografischer Genauigkeit. Doch hin und wieder war ein altes Haus abgerissen und durch ein neues ersetzt worden. Dann blieb Borges stehen und sagte: »Beschreiben Sie es. Fangen Sie beim Erdgeschoss an und gehen Sie nach oben.« Während Gustavo sprach, konnte er sehen, wie Borges das neue Gebäude im Geiste nachbaute und an seinen Platz rückte. Am Ende ihres Rundganges sagte Borges ihm das Vorwort zu.
    Thorlichen hatte ihm ein Exemplar des Argentinien -Buches geschenkt, und obgleich es inzwischen wie fast all seine Habseligkeiten eingemottet in irgendwelchen Kisten lag, konnte er sich noch genau erinnern, was Borges über die Grenzen der Fotografie geschrieben hatte. Die Fotografie sehe nur das, was vor ihr liege, weshalb es einem Fotografen unmöglich sei, die Wahrheit der riesigen argentinischen Pampa zu bannen. »Darwin stellte fest (und Hudson bestärkte ihn darin), dass diese Steppe, berühmt unter den Steppen der Erde, nicht bei dem, der sie vom Boden oder vom Pferde aus betrachtet, den Ein druck der Weite hinterlässt, da ihr Horizont der des Auges ist und nicht über drei Meilen hinausgeht. Mit anderen Worten: Die Weite ist nicht in jeder Wahrnehmung der Pampa (das, was die Kamera regis trieren kann), sondern in der Vorstellung des Reisenden, in seiner Er innerung an Tagesmärsche und in seiner Voraussicht.« Nur in der vergehenden Zeit offenbare sich die endlose Weite der Pampa, doch Dauer lasse sich in einer Fotografie nicht bannen. Ein Foto der Pampa zeige nichts weiter als eine riesige Fläche. Es könne nicht festhalten, was es bedeutet, die schier irremachende Monotonie dieser ewiggleichen, nie endenden Leere weiter und immer weiter zu durchqueren.
    Wie sich das vierte Jahr seines neuen Lebens vor ihm erstreckte, fühlte er sich oft wie Borges’ imaginärer Reisender, verloren in Raum und Zeit. Noch war der Film Und täglich grüßt das Murmeltier nicht in den Kinos, doch als er ihn sah, konnte er sich sehr gut in Bill Murrays Figur hineinversetzen. Auch in seinem Leben wurde jeder Schritt nach vorn durch einen Rückschritt zunichte gemacht.

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