Joseph Anton
Die Illusion von Veränderung zerbrach an der Erkenntnis, dass nichts sich geändert hatte. Hoffnung mündete in Enttäuschung, gute Neuigkeiten in schlechte. Sein Leben verlief in einer Endlosschleife. Hätte er gewusst, dass sich bis weit jenseits des Horizonts weitere sechs Jahre der Zwangsisolation vor ihm ausdehnten, wäre er womöglich tatsächlich durchgedreht. Doch reichte sein Blick nur bis zum Rand der Erde; was dahinter lag, war ein Geheimnis. Er blieb beim Jetzt und überließ die Ewigkeit sich selbst.
Nachher hörte er von seinen Freunden, man hätte sehen können, wie die Last ihn langsam niederdrückte und ihn älter aussehen ließ, als er war. Als sie schließlich von seinen Schultern genommen wurde, kehrte eine Art Jugend zurück, als wäre die Zeit am Ende der Unendlichkeit zu dem Punkt zurückgesprungen, an dem er in den Sog hineingeraten war. In seinen Fünfzigern sah er jünger aus als in seinen Vierzigern. Doch seine Fünfziger waren noch ein halbes Jahrzehnt entfernt, und bis dahin sollten noch viele Menschen unduldsam, ge nervt oder gelangweilt reagieren, sobald seine Geschichte zur Sprache kam. Es waren keine geduldigen, sondern schnelllebige Zeiten, in denen nichts die Aufmerksamkeit lange zu halten vermochte. Geschäftsleuten, denen seine Geschichte bei ihren Bemühungen um den iranischen Markt in die Quere kam, wurde er ebenso lästig wie Diplomaten, die Brücken bauen wollten, oder Journalisten, denen er keine neuen Storys lieferte. Dass die Story in ihrer unveränderlichen, unerträglichen Endlosigkeit bestand, konnten oder wollten die Leute nicht hören. Dass er jeden Morgen in einem Haus voller bewaffneter Fremder aufwachte, dass er nicht vor die Tür gehen konnte, um sich eine Zeitung oder einen Kaffee zu kaufen, dass der Großteil seiner Freunde und selbst seine Familie seinen Aufenthaltsort nicht kannte und dass er keinen einzigen Schritt ohne Genehmigung tun konnte; dass er um allgemeine Selbstverständlichkeiten wie Flugreisen feilschen musste; und dass stets die unmittelbare Gefahr eines gewaltsamen Todes lauerte, die laut denen, die sich damit auskannten, keinen Deut gesunken war – das war öde. Was? Er war noch immer in der Pampa unterwegs und alles war wie ehedem? Tja, die Geschichte kannte nun wirklich jeder, die wollte keiner mehr hören. Erzähl uns was Neues , lautete der allgemeine Tenor, oder lass uns in Ruhe.
Es hatte keinen Zweck, der Welt zu sagen, dass sie falschlag. In die Richtung war kein Land zu machen. Also gut, etwas Neues. Wenn es das war, was alle wollten, würde er es liefern. Schluss mit der Unsichtbarkeit, dem Schweigen, der Verzagtheit, der Gegenwehr, der Schuld! Ein unsichtbarer, mundtot gemachter Mann war ein Vakuum, das andere mit ihren Vorurteilen, ihren Hintergedanken und ihrem Zorn füllen konnten. Der Kampf gegen Fanatismus brauchte klare Gesichter und deutliche Stimmen. Er würde nicht länger schweigen. Er würde sich daranmachen, hörbar und sichtbar zu werden.
Es war nicht einfach, auf einer derart öffentlichen Bühne zu stehen. Man musste sich zurechtfinden und lernen, sich im gleißenden Rampenlicht zu bewegen. Er war herumgetappt und gestrauchelt, hatte die Sprache verloren und das Falsche gesagt. Doch jetzt sah er klarer. In der Stationers’ Hall hatte er sich geweigert, eine Unperson zu sein. Amerika hatte es ihm ermöglicht, seine Rückreise zum Menschsein anzutreten, zuerst an der Columbia und dann in Washington. Die Kämpferrolle war würdevoller als die Opferrolle. Ja, er würde für seine Sache kämpfen. Von nun an würde das die Story sein.
Sollte er je ein Buch über diese Jahre schreiben, wie würde es aussehen? Er könnte natürlich andere Namen verwenden und diese Leute ›Helen Hammington‹ und ›Rab Connolly‹, ›Paul Topper‹ und ›Dick Wood‹ oder ›Mr Afternoon‹ und ›Mr Morning‹ nennen, doch wie könnte er vermitteln, wie diese Jahre gewesen waren? Er fing an über ein Projekt mit dem Arbeitstitel ›Inferno‹ nachzudenken, in dem seine Geschichte zu etwas anderem würde als zu einer einfachen Autobiografie. Das halluzinatorische Porträt eines Mannes, dessen Weltbild zerstört wurde. Wie jeder Mensch hatte er ein Bild von der Welt gehabt, das irgendwie einen Sinn ergab. Er hatte in diesem Bild gelebt, begriffen, weshalb es so und nicht anders war, und gelernt, sich darin zurechtzufinden. Dann war die Fatwawie ein wuchtiger Hammer darauf niedergesaust und hatte ihn in einem absurden, formlosen,
Weitere Kostenlose Bücher