Joseph Anton
amoralischen Universum zurückgelassen, das keinen Sinn ergab und vor Gefahren strotzte. Der Mann in seiner Geschichte versuchte verzweifelt, sein Weltbild zusammenzuhalten, doch es zerbrach wie ein Spiegel und schnitt ihm die Hände blutig. Vom Wahnsinn gepackt, machte sich der Mann mit den blutenden Händen, der ein Abbild seiner selbst war, auf den Weg aus dem finsteren Wald ins Licht, durchquerte die zahllosen Höllenkreise, die privaten und öffentlichen Unterwelten, tauchte ein in die verborgenen Reiche des Terrors und strebte großen, verbotenen Gedanken entgegen.
Nach einer Weile verwarf er die Idee. Das einzig Interessante an dieser Geschichte war, dass sie sich tatsächlich zugetragen hatte. Als Fiktion interessierte sie nicht.
Sein tägliches Leben war hart, doch entgegen den Befürchtungen seiner Freunde ging er nicht in die Knie. Er lernte, sich zu wehren, und die unsterblichen Schriftsteller der Vergangenheit waren seine Leitbilder. Schließlich war er nicht der Erste, der wegen seiner Kunst bedroht, geächtet und verdammt wurde. Er dachte an den großartigen Dostojewski, der dem Erschießungskommando gegenüberstand und, nachdem er in letzter Minute begnadigt worden war, vier Jahre im Gefangenenlager verbrachte; an Genet, der sein zutiefst homoerotisches Meisterwerk Notre-Dames-des-Fleurs im Gefängnis unbeirrt weiterschrieb. Der französische Übersetzer von Les Versets Sataniques hatte seinen eigenen Namen nicht verwenden wollen und sich stattdessen ›A. Nasier‹ genannt, zu Ehren des großen François Rabelais, der sein erstes Buch Pantagruel unter dem Pseudonym ›Alcofribas Nasier‹ herausgebracht hatte. Auch Rabelais war von der hohen Geistlichkeit verdammt worden. Die katholische Kirche konnte seine überbordende Satire einfach nicht verknusen. Doch König Franz I. hatte sich auf seine Seite gestellt: Diesem Genie dürfe man nicht den Mund verbieten. Damals wurden Künstler noch von Königen verteidigt, weil sie ihr Handwerk beherrschten . Das waren harmlosere Zeiten gewesen.
Sein Fehler hatte ihm die Augen geöffnet, die Gedanken geläutert und ihm jegliche Zweideutigkeit ausgetrieben. Er erkannte die Gefahr, die sich zusammenbraute, hatte er doch ihre verderbliche Kraft in seiner eigenen Brust gespürt. Eine Zeitlang hatte er seine Sprache aufgegeben und war zum Sprechen gezwungen worden, stockend, verschraubt, mit einem Zungenschlag, der nicht der seine war. Der Kompromiss hat den Kompromissler zerstört und den kompromisslosen Feind nicht beschwichtigen können. Malt man sich die Flügel schwarz, wird man nicht zur Krähe, sondern zur ölverschmierten Möwe, die nicht mehr fliegen kann. Die größte Gefahr der wachsenden Bedrohung lag darin, dass gute Menschen intellektuellen Selbstmord begingen und es Frieden nannten, sich der Angst ergaben und es Respekt nannten.
Ehe irgendjemand sonst sich für die Ornithologie des Terrors interessierte, sah er die sich sammelnden Vögel. Er würde die Kassandra seiner Zeit sein, verwünscht und ungehört, und sollte ihn doch jemand hören, würde er für das, was er aufzeigte, verantwortlich gemacht werden. Schlangen hatten ihm die Ohren geleckt und er konnte die Zukunft hören. Nein, nicht Kassandra, das traf es nicht, er war kein Prophet. Er horchte lediglich in die richtige Richtung und blickte dem herannahenden Sturm entgegen. Doch die Blickrichtung der Menschen zu ändern war schwer. Niemand wollte wissen, was er wusste.
Miltons Areopagitica sang gegen die lärmenden Krähen an. Wer aber ein gutes Buch vernichtet, der versetzt der Vernunft selbst den Todesstoß … Wonach mich verlangt, das ist die allem anderen vorzuziehende Freiheit, sich nach Maßgabe des eigenen Gewissens frei zu unterrichten, zu äußern und mit anderen auseinanderzusetzen. Es war lange her, dass er die alten Texte über die Freiheit gelesen hatte, und damals hatte er sie als schön, aber theoretisch empfunden. Wozu brauchte er eine Theorie der Freiheit, wenn er sie lebte? Heute empfand er anders.
Die Schriftsteller, die stets am deutlichsten zu ihm gesprochen hatten, bildeten eine Art Gegengruppe zur Leavis’schen ›Great Tradition‹. Sie erfassten die Unwirklichkeit der ›Wirklichkeit‹ und die Wirklichkeit des düsteren Wachtraums der Welt, die ungeheuerliche Wandelbarkeit des Alltäglichen, den Einbruch des Extremen und Unwahr scheinlichen in das gewohnte Einerlei. Rabelais, Gogol, Kafka und ihresgleichen waren seine Lehrmeister, und ihre Welt war für ihn
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