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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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kein Fantasiegespinst mehr. Er lebte im Gogolesken, Rabelaisken, Kafkaesken, war darin gefangen.
    Auf den von Elizabeth akribisch in große Alben geklebten Fotos aus jener Zeit ist Mr Joseph Anton nicht sonderlich gut gekleidet. Seine Standardkluft bestand aus Jogginghose und Sweatshirt. Die Hose war meistens grün, das Sweatshirt braun. Sein Haar war zu lang und sein Bart ungepflegt. So auszusehen bedeutete, ich lasse mich gehen. Man muss mich nicht ernst nehmen. Ich bin ein Schlappschwanz. Er hätte sich täglich rasieren und frisch gestärkte Kleidung tragen sollen, Savile-Row-Anzüge vielleicht, oder zumindest ein gutes Hemd und eine anständige Hose. Er hätte sich im Brooks-Brothers-Anzug an den Schreibtisch setzen sollen wie Scott Fitzgerald oder mit steifem Kragen und Manschettenknöpfen wie Borges. Hätte er mehr auf sein Äußeres geachtet, wäre das Urteil über ihn vielleicht besser ausgefallen. Hemingway in seinen Baumwollshorts und Sandalen war allerdings auch nicht schlecht. Wie gern hätte er auf diesen Fotos schöne Schuhe an seinen Füßen gesehen, zweifarbige Schnürschuhe oder weiße Lederschuhe. Stattdessen schlappte er in Birkenstocks durchs Haus, von Crocs abgesehen das trostloseste Schuhwerk überhaupt. Er sah in den Spiegel und ertrug den Anblick nicht. Er stutzte seinen Bart, ließ sich von Elizabeth die Haare schneiden – die schicke Elizabeth, die, als sie sich kennenlernten, noch wie eine Studentin herumgelaufen war und jetzt wie eine gestrandete Nixe, die das Meer entdeckt, in Designerklamotten schwelgte – und bat die Polizisten, mit ihm neue Anziehsachen kaufen zu gehen. Es war höchste Zeit, sich seiner selbst wieder anzunehmen. Er zog in die Schlacht und seine Rüstung musste glänzen.
    *
    Wenn etwas zum allerersten Mal geschieht, stürzt das die Menschen häufig in Verwirrung, als würden selbst die klarsten Köpfe von einer Art Nebel getrübt, und häufig verwandelt sich diese Verwirrung in Ablehnung oder gar Wut. Ein Fisch kroch aus dem Schlick an Land, und die anderen Fische waren perplex, womöglich gar verärgert, dass eine verbotene Grenze überschritten wurde. Ein Meteorit traf auf die Erde und der Staub verhüllte die Sonne, doch die Dinosaurier kämpften und fraßen weiter, ohne zu begreifen, dass ihre Zeit vorbei war. Die Entstehung der Sprache erzürnte die Stummen. Im Angesicht der osmanischen Geschütze wollte der Schah von Persien nicht wahrhaben, dass die Ära des Schwertes vorüber war, und ließ seine Kavallerie gegen die donnernden türkischen Kanonen in den Tod reiten. Ein Forscher beobachtete Schildkröten und Spottdrosseln und schrieb über Zufallsmutation und natürliche Selektion, und die Anhänger der Schöpfungsgeschichte verwünschten seinen Namen. Eine Revolution in der Malerei wurde verlacht und als Impressionismus abgetan. Ein Folksänger schloss seine Gitarre an einen Verstärker an und eine Stimme aus dem Publikum brüllte ›Judas!‹
    Das war die Frage, die sein Roman gestellt hatte: Wie kommt das Neue in die Welt?
    Die Ankunft des Neuen bedeutete nicht zwangsläufig Fortschritt. Die Menschen fanden auch neue Methoden, einander zu drangsalieren, ihre besten Errungenschaften zunichte zu machen und wieder in der Ursuppe zu versinken. Sowohl die düstersten als auch die strahlendsten menschlichen Neuerungen verwirrten die Menschheit. Als die ersten Hexen verbrannt wurden, war es leichter, die Hexen zu verteufeln als danach zu fragen, ob ihre Verbrennung statthaft ist. Als der Gestank der Gaskammern durch die Straßen der nahe gelegenen Dörfer wehte und schwarzer Schnee vom Himmel fiel, war es leichter, nicht zu begreifen. Die meisten Chinesen begriffen die gefallenen Helden von Tianan’men nicht. Das Begriffsvermögen der Verantwortlichen ging in die Irre. Als in der muslimischen Welt die Tyrannen an die Macht kamen, waren viele schnell dabei, ihre Regime als authentisch und deren Opposition als verwestlicht und entfremdet zu bezeichnen. Als ein pakistanischer Politiker eine zu Unrecht der Blasphemie angeklagte Frau in Schutz nahm, wurde er von seinem Bodyguard umgebracht; das Land applaudierte dem Mörder und bewarf ihn auf dem Weg ins Gericht mit Blütenblättern. Die meisten dieser düsteren Innovationen entstanden im Namen einer totalitären Ideologie, eines Alleinherrschers, eines ehernen Dogmas oder eines Gottes.
    Trotz der zahlreichen Schlagzeilen war der Angriff auf Die satanischen Verse an sich eine Marginalie, und das machte es schwer, die

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