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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Leute davon zu überzeugen, dass er dennoch erheblich genug war, um eine besondere Antwort zu fordern. Als er seine lange Reise durch die Machtkorridore der Welt antrat, war er gezwungen, seinen Fall wieder und wieder darzulegen. Ein ernstzunehmender Schriftsteller hat ein ernstzunehmendes Buch geschrieben. Die gewaltsame und bedrohliche Antwort darauf war ein terroristischer Akt, dem man entgegentreten muss. Nun, aber sein Buch hat viele Menschen beleidigt, oder nicht? Schon möglich, doch der Angriff auf das Buch, auf dessen Autor, Verleger, Übersetzer und Händler war eine weitaus größere Beleidigung. Aha, nachdem er Ärger gemacht habe, wolle er sich gegen die verärgerte Gegenreaktion wehren, und die führenden Köpfe der Welt sollten für sein Recht eintreten, Ärger zu machen.
    Im siebzehnten Jahrhundert entwickelte der englische Hexenjäger Matthew Hopkins einen Hexentest. Man beschwerte die beschuldigte Frau mit Steinen oder fesselte sie auf einen Stuhl und warf sie in einen Fluss oder See. Wenn sie nicht unterging, war sie eine Hexe und verdiente den Feuertod; wenn sie unterging und ertrank, war sie unschuldig.
    Der Hexerei bezichtigt zu werden kam meist einem Schuldspruch gleich. Jetzt stand er auf dem Scheiterhaufen und versuchte die Welt davon zu überzeugen, dass nicht er, sondern die Hexenjäger die Verbrecher waren.
    Etwas Neues war im Gange: Eine neue Intoleranz zog auf. Sie verbreitete sich über den Erdball, doch niemand wollte es wahrhaben. Ein neues Wort war erfunden worden, um den Blinden ihre Blindheit zu lassen: Islamophobie. Die militanten Misstöne im gegenwärtigen Gepräge dieser Religion zu kritisieren war Bigotterie. Phobische Menschen hatten extreme und irrationale Ansichten, also waren sie schuld und nicht das Glaubenssystem, das sich mehr als einer Milliarde Anhänger weltweit rühmen konnte. Eine Milliarde Gläubige konnten nicht irren; die Kritiker waren diejenigen mit Schaum vorm Mund. Ab wann, so fragte er sich, wurde es irrational, eine Religion – ganz gleich welche – nicht zu mögen, sie gar zu verabscheuen? Ab wann wurde Vernunft in Torheit umbenannt? Ab wann wurden die Märchen der Abergläubischen höher gehängt als Kritik und Satire? Eine Religion war keine Rasse. Sie war eine Idee und Ideen standen (oder fielen), weil sie stark genug (oder zu schwach) waren, um Kritik zu widerstehen, und nicht, weil man sie davor schützte. Starke Ideen waren offen für Querdenker. »Wer mit uns ringt, stärkt unsere Nerven und macht uns tüchtiger«, schrieb Edmund Burke. »Unsere Gegner sind unsere Helfer.« Nur die Schwachen und Autoritären wandten sich von ihren Widersachern ab, schmähten sie oder wollten ihnen Gewalt antun.
    Nicht Menschen wie er, sondern der Islam hatte sich geändert und gegen die unterschiedlichsten Ideen, Verhaltensweisen und Dinge eine Phobie entwickelt. In jenen Jahren und in denen, die folgen sollten, wurden an allen Ecken der Welt – in Algerien, Pakistan, Afghanistan – islamische Stimmen laut, die Theater, Film und Musik verdammten; Musiker und Schauspieler wurden verstümmelt und umgebracht. Gegenständliche Kunst war böse, also wurden die antiken Buddhas tatuen in Bamiyan von den Taliban zerstört. Es gab islamistische Angriffe auf Sozialisten und Gewerkschaftler, Karikaturisten und Journalisten, Prostituierte und Homosexuelle, Röcke tragende Frauen und bartlose Männer und auf solch irrwitzige Übel wie Tiefkühlhähnchen und Samosas.
    Würde die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben werden, mochte die Entscheidung, die Dynastie der Saud auf den Erdölthron zu setzen, durchaus als eklatantester außenpolitischer Fehler des Westens anmuten, hatten doch die Saudis ihren grenzenlosen Ölreichtum dazu genutzt, Schulen (Madrasas) zu bauen, um die extremistische, sittenstrenge Ideologie ihres geliebten (und bis dahin unbedeutenden) Muhammad ibn Abd al-Wahhab zu propagieren, bis der winzige Kult des Wahhabismus schließlich die gesamte arabi sche Welt überrollte. Andere islamische Extremisten fühlten sich dadurch bestärkt. In Indien verbreitete sich die Deobandi-Bewegung der Hochschule Darul Uloom, im schiitischen Iran gab es die militanten Prediger von Ghom und im sunnitischen Ägypten die einflussreichen Konservativen der al-Azhar. Während die extremistischen Ideologien Wahhabismus, Salafismus, Khomeinismus und Deobandismus an Einfluss gewannen und die von saudischem Öl finanzierten Madrasas Generationen von grimmig

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