Joseph Anton
Internationalen Gerichtshof; Major wollte den Fall nicht dorthin bringen, um »den Iran nicht in die Ecke zu drängen«. Und sie waren sich über die Bedeutung eines Treffens mit Präsident Clinton einig. Er erzählte dem Premierminister, was der UN -Unterhändler Picco gesagt hatte. Die USA sind der Schlüssel . Nickend sah Major zu seinen Beratern hinüber. »Wir werden sehen, was sich tun lässt.«
Als die Nachricht ihrer Begegnung zusammen mit einem Statement des Premierministers, in dem er die Fatwa scharf verurteilte, nach außen drang, reagierte das regimetreue iranische Blatt Kayhan erbost. »Der Autor von Die satanischen Verse legt es regelrecht darauf an, einen Schlag ins Genick kriegen.« Es wurde hoch gepokert, und er versuchte vorsätzlich, noch eins draufzusetzen. Bislang ließen sich die Iraner nicht unterkriegen, und deshalb gab es nur einen Weg: Er musste den Einsatz abermals erhöhen.
*
Clarissa rief an und sagte, sie habe einen Knoten in der Brust, »vier von fünf Punkten auf der Krebs-Wahrscheinlichkeitsskala«. Die Lumpektomie stehe in sechs Tagen an, das Ergebnis gebe es eine Woche später. Aus ihrer Stimme war ein Zittern herauszuhören, aber auch ihre unbeugsame Stärke. Er war erschüttert. Minuten später rief er sie zurück und bot ihr an, für eine private Behandlung und alles, was nötig sei, aufzukommen. Sie sprachen darüber, ob sich eine Brustamputation umgehen lasse, und er gab ihr weiter, was er von Nigella und Thomasina über die Brustkrebseinheit am Guy’s Hospital und den Spezialisten Professor Fentiman gehört hatte. Das Sunday Times Magazine hatte eine Titelgeschichte über Brustkrebs gemacht, in der auch Fentiman zu Wort gekommen war. Sie muss ihn besiegen, dachte er. Sie hat es nicht verdient. Sie wird ihn besiegen.
Er und Elizabeth würden alles ihnen Mögliche tun. Doch mit einer tödlichen Krankheit war man immer allein. Und nach vier Jahren voller Angst um das andere Elternteil würde Zafar nun auch das noch ertragen müssen. Ein Schlag aus dem Hinterhalt. Jetzt war das ›sichere‹ Elternteil in Gefahr. Er konnte nicht umhin, weiterzudenken. Wie würde er Zafar ein erträgliches Leben bieten können, wenn seine Mutter starb? Er würde in diesem geheimen Haus leben müssen, aber was wäre mit seiner Schule, seinen Freunden, seinem Leben in der ›wirklichen‹ Welt? Wie konnte er ihm über einen derart schmerzlichen Verlust hinweghelfen?
Es ist, als brächte man sein halbes Leben damit zu, sich zur Sonne durchzukämpfen, um nach fünf Minuten im Sonnenlicht wieder zum Sterben in die Finsternis hinabgezogen zu werden, sagte er zu Elizabeth. Kaum hatte er das gesagt, wurde es zu den Worten Flory Zogoibys, Abrahams Mutter in Des Mauren letzter Seufzer. Kannte die Dreistigkeit literarischer Fiktion gar keine Grenzen? Nein, überhaupt keine.
Er erzählte dem Schutzbeamten Dick Billington, dass Clarissa womöglich Krebs habe. »Tja, Frauen werden einfach immer krank«, war die Antwort.
Sameen sagte ihm, sie habe ein langes Gespräch mit Clarissa gehabt, die über alte Zeiten hätte plaudern wollen. Sie sei tapfer gewesen, meinte aber, für dieses Leben hätte sie ›genug Pech abbekommen‹. Clarissas Krankheit hatte Sameen ihre eigene Sterblichkeit vor Augen geführt. Sie wollte ihn bitten, die Vormundschaft für ihre Kinder zu übernehmen, sollten sie und deren Vater sterben.
Er sagte, Ja, selbstverständlich, doch angesichts der Lebensgefahr, in der er schwebe, solle sie lieber noch einen Plan B in der Tasche haben.
Die Testergebnisse aus dem St. Bartholomew’s Hospital waren da, und sie waren tatsächlich sehr schlecht. Clarissa hatte ein invasives duktales Karzinom , das rund anderthalb Jahre lang unentdeckt geblieben war. Ein radikaler Eingriff war unumgänglich. ›Womöglich‹ hatte sich der Krebs bereits im Lymphsystem ausgebreitet. Bluttests waren erforderlich, und auch ihre Lungen, die Leber und das Kno chenmark mussten untersucht werden. Sie versuchte so ruhig wie möglich zu klingen, doch er konnte die Angst in ihrer Stimme hören. Zafar nehme sie ganz fest in die Arme, sagte sie und brach fast in Tränen aus. Es habe sie bereits enorme Überwindung gekostet, sich mit der Mastektomie abzufinden, doch was sollte sie machen, wenn es auch mit der Leber und dem Knochenmark schlecht aussähe? Wie fand man sich mit der Unausweichlichkeit des Todes ab?
Er rief Nigella an. Sie kannte jemanden, der neue Heilmethoden für Leberkrebs entwickelt hatte und damit
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