Joseph Anton
Leben zu drängen. Doch vielleicht war sein Leben inzwischen zum Allgemeingut geworden, und er sah bereits die Schlagzeilen vor sich, wenn er versuchte, das Buch zu verhindern. RUSHDIE ZENSIERT MÁRQUEZ . Und was sollte das überhaupt heißen, ›romanhafte Darstellung‹? Wenn García Márquez über einen lateinamerikanischen Schriftsteller schreiben wollte, der es sich mit christlichen Fanatikern verscherzt hatte, dann viel Spaß dabei. Doch sollte Márquez beab sichtigen, in ihn hineinschauen zu wollen, wäre das anmaßend. Er bat Andrew, seine Bedenken weiterzugeben, und nach einem langen Schweigen von Balcells folgte eine Nachricht, dass Márquez’ Buch nicht von Mr Rushdie handle. Was sollte dann dieses seltsame kleine Intermezzo?
Gabriel García Márquez brachte weder eine ›romanhafte Darstellung‹ noch sonst irgendetwas heraus, was sich im Entferntesten mit Carmen Balcells’ Andeutungen deckte. Doch die Episode hatte Salz in seine Wunde gestreut. García Márquez hatte ein fiktives oder nicht-fiktives Buch über ihn schreiben oder nicht schreiben wollen, er hingegen hatte das ganze Jahr noch kein dichterisches Wort zu Papier gebracht – nein, viel länger noch. Das Schreiben hatte stets im Mittelpunkt seines Lebens gestanden, doch jetzt waren Dinge, die marginal gewesen waren, darüber hereingebrochen und hatten den seiner Arbeit vorbehaltenen Freiraum unter sich begraben. Er zeichnete eine Einführung für einen TV -Film über Tahar Djaout auf. Er erhielt das Angebot einer monatlichen Kolumne, die vom New York Times Syndicate weltweit vertrieben werden sollte, und bat Andrew, es anzunehmen.
Weihnachten stand vor der Tür. Er war erschöpft und trotz der politischen Erfolge, die das Jahr gebracht hatte, an einem Tiefpunkt. Er redete mit Elizabeth über die Zukunft, über ein Kind, darüber, wie ihr Leben aussehen könnte, und ihm wurde klar, dass sie sich ohne Polizeischutz niemals sicher fühlen würde. Sie waren sich in der Mitte des Spinnennetzes begegnet, und dieses Spinnennetz war die einzige Wirklichkeit, der sie traute. Sollte der Tag kommen, an dem er keine Bodyguards mehr benötigen würde, würde sie ihn dann aus Angst verlassen? Es war eine winzige Wolke am Horizont. Würde sie irgendwann den ganzen Himmel bedecken?
Thomasina Lawson starb mit gerade einmal zweiunddreißig Jahren. Clarissa bekam Chemotherapie. Und auch Frank Zappa starb. Die Nachricht ließ die Vergangenheit mit ungeahnter Wucht und Heftigkeit über ihn hereinbrechen. Bei einem ihrer ersten Dates waren er und Clarissa zu einem Mothers-of-Invention-Konzert in die Royal Albert Hall gegangen, und mitten in der Show war ein besoffener schwarzer Typ in einem glänzenden lila Hemd auf die Bühne gekraxelt und hatte verlangt, mit der Band zu spielen. Zappa blieb ganz cool. »Hmhm, Sir«, sagte er, »und welches Instrument spielen Sie?« Mr Lila nuschelte etwas von einem Horn und Zappa rief: »Gebt dem Mann ein Horn!« Mr Lila dudelte schief drauflos. Zappa hörte ein paar Takte lang zu und sagte: »Hmm. Ich frage mich, wie wir diesen Herrn hier auf seinem Horn begleiten können. Ich hab’s! Die große, erhabene Albert-Hall-Orgel!« Daraufhin kletterte einer der Mothers auf die Orgelbank, zog alle Register und spielte ›Louie Louie‹, derweil Mr Lila schief und unhörbar vor sich hin trötete. Es war einer ihrer frühen glücklichen Momente gewesen, und jetzt war Zappa tot und Clarissa kämpfte um ihr Leben. (Wenigstens ihr Job war gerettet. Er hatte ihre Vorgesetzten bei A. P. Watt angerufen und ihnen gesagt, wie schlecht es aussähe, wenn sie eine Frau vor die Tür setzten, die Krebs hatte und die Mutter von Salman Rushdies Sohn war. Gillon Aitken und Liz Calder riefen auf seine Bitte hin ebenfalls an, und die Agentur gab nach. Clarissa wusste nicht, dass er etwas damit zu tun hatte.) Er lud sie ein, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Sie kam mit Zafar, lächelte matt, wirkte gehetzt und schien den Tag zu genießen.
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Auch er bekam Briefe, die den imaginären Briefen in seinem Kopf glichen. Einhundert arabische und muslimische Schriftsteller hatten gemeinsam einen vielsprachigen, französisch übersetzten Essayband mit dem Titel Pour Rushdie herausgegeben, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Einhundert Schriftsteller, von denen die meisten wussten, wovon er redete, Schriftsteller, die aus der Welt stammten, aus der sein Buch hervorgegangen war, und die, auch wenn sie seine Ansichten nicht teilten, bereit waren, sein
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