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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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matriarchalen, fürsorglichen Gemeinschaft, die keine Waisenkinder unversorgt ließ – Waisenkinder wie einstmals Muhammad, dessen Erfolg als Kaufmann ihn, wie er fand, zu einem Platz in der gesetzgebenden Versammlung der Stadt berechtigte; doch man verweigerte ihm dieses Vorrecht, da er keine mächtige Familie hatte, die sich für ihn einsetzte.
    Ein faszinierendes Paradox: eine im Grunde konservative Theologie, rückwärts gewandt einer untergehenden Kultur zugeneigt, wird zur revolutionären Idee, weil sich jene Menschen am stärksten von ihr angezogen fühlen, die von der Verstädterung an den Rand gedrängt wurden – die unzufriedenen Armen, der Mob der Straße. Vielleicht war dies der Grund, weshalb Mekkas Elite diese neue Idee, den Islam, so bedrohlich fand, warum sie ihn so bitterlich verfolgte und warum dem Religionsgründer vielleicht – nur vielleicht – ein attraktiver Handel angeboten wurde, mit dem man ihn kaufen wollte.
    Die historischen Zeugnisse sind unvollständig, doch erzählen die meisten der größeren hadith -Sammlungen – der Überlieferungen vom Leben des Propheten (etwa jene, die von Ibn Ishaq, von Waqidi, Ibn Sa’d, Bukhari und Tabari zusammengestellt wurden) – die Geschichte von einem Vorfall, der später als der Vorfall der satanischen Verse bekannt werden sollte. Eines Tages kam der Prophet vom Berg herab und rezitierte die Sure (Nummer 53), genannt an-Najm , der Stern. Sie enthält die folgenden Worte: »Habt ihr von al-Lat und al-Uzza ge hört und von al-Manat, der Dritten, die eine andere ist? Sie sind die erhabenen Vögel, ihre Fürbitte ist erwünscht.« Und später – Tage später? oder Wochen, Monate später? – ging er zurück auf den Berg und kam beschämt wieder herab, um nun zu verkünden, dass man ihn bei seinem letzten Besuch getäuscht hatte; der Teufel war ihm in Gestalt des Erzengels erschienen, weshalb es sich bei den Versen, die ihm eingeflüstert wurden, um keine göttlichen, sondern um satanische Verse handelte, die sogleich aus dem Koran getilgt werden sollten. Bei dieser Gelegenheit hatte der Engel neue Verse Gottes mitgebracht, die im großen Buch die satanischen ersetzen sollten: »Habt ihr von al-Lat und al-Uzza gehört und von al-Manat, der Dritten, die eine andere ist? Das sind bloße Namen, die ihr und eure Väter aufgebracht haben und zu denen Gott keinerlei Vollmacht herabgesandt hat. Sollte Gott Töchter haben, während ihr Söhne habt? Das wäre eine unrechte Verteilung.« Auf diese Weise wurde das Rezitierte vom Teufelswerk gereinigt. Die Fragen aber blieben: Warum hatte Mohammed anfänglich die erste, die ›falsche‹ Offenbarung als wahre Offenbarung hingenommen? Und was war in Mekka zwischen den beiden Offenbarungen geschehen, der des Satans und der des Engels?
    So viel wusste man: Mohammed wollte vom Volk von Mekka anerkannt werden. »Ihn verlangte«, schrieb Ibn Ishaq, »danach, sie um sich zu scharen.« Und als das Volk hörte, er habe die drei geflügelten Göttinnen gutgeheißen, war dies eine willkommene Neuigkeit. »Sie waren begeistert und sehr damit zufrieden, wie er über ihre Götter sprach«, schreibt Ibn Ishaq, »und sie sagten: ›Mohammed spricht auf ausgezeichnete Weise von unseren Göttern‹«. Buhari berichtete: »Der Prophet … warf sich in den Staub, während er an-Najm rezitierte, und mit ihm warfen sich die Muslime zu Boden, die Heiden, die Dschinns und alle menschlichen Wesen.«
    Warum hat dann der Prophet später widerrufen? Westliche Historiker (der schottische Islamgelehrte W. Montgomery Watt, der französische Marxist Maxime Rodinson) schlugen eine politisch motivierte Lesart dieser Episode vor. Die Tempel der drei geflügelten Göttinnen waren enorm wichtig für die herrschende Elite der Stadt, eine Elite, die Mohammed verschlossen blieb, unfairerweise, wie er fand. Der ›Deal‹, den man ihm angeboten hatte, lief also möglicherweise auf Folgendes hinaus: Falls Mohammed oder der Erzengel oder Allah damit einverstanden waren, dass die Vogel-Göttinnen auch von den Anhängern des Islam verehrt wurden, natürlich nicht als Allah gleichgestellte Gottheiten, doch als untergeordnete, unbedeutendere Wesen, zum Beispiel als Engel – im Islam gab es ja bereits Engel, was konnte es also schaden, wenn man noch drei hinzufügte, drei, die in Mekka zufällig auch noch sehr beliebt und sehr einträglich waren? –, falls also dies geschah, dann würde man die Muslime nicht länger verfolgen, und Mohammed selbst bekäme

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