Joseph Anton
fand er es entsetzlich, wie passiv er all dies über sich ergehen ließ, auch wenn nur schwer vorstellbar war, was er hätte anders machen können. Er hätte sich weigern können, den Bratensoßenschaden in seinem Zimmer zu bezahlen, hätte sich weigern können, andere Schuhe anzuziehen, hätte sich weigern können hinzuknien, um seinen B. A., seinen Bakkalau reus der Künste, zu erbitten. Er aber hatte es vorgezogen, klein bei zugeben und sein Examen in Empfang zu nehmen. Die Erinnerung an diese Unterwerfung machte ihn trotziger, weniger kompromissbereit, weniger bereit, sich mit Ungerechtigkeit abzufinden, mochten die Gründe dafür noch so überzeugend klingen. Von da an sollte Ungerechtigkeit stets den Geschmack von Bratensoße haben. Ungerechtigkeit war eine braune, klumpige, gerinnende Brühe, die scharf und tränentreibend nach Zwiebeln roch. Unfairness fühlte sich an, als müsste man im letzten Moment und in vollem Tempo aufs Zimmer zurücklaufen, um die verbotenen braunen Schuhe auszuziehen. Ungerechtigkeit, das war, dass man gezwungen wurde, auf den Knien und in einer toten Sprache um das zu bitten, was einem rechtmäßig zustand.
Während einer Abschlussfeier am Bard College erzählte er viele Jahre später folgende Geschichte: »So lautet die Erkenntnis, die mich die Parabeln vom Unbekannten Bratensoßenattentäter, der Verbotenen Fußbekleidung und dem Hinfälligen Vizekanzler auf seinem Thron gelehrt haben und die ich heute an Sie weitergeben möchte«, verriet er an einem sonnigen Nachmittag in Annandale-on-Hudson, New York, der Abschlussklasse des Jahres 1996. »Erstens: Sollte man Ihnen eines Tages auf Ihrem Lebensweg etwas vorwerfen, was man einen schwerwiegenden Fall von Bratensoßenmissbrauch nennen könnte – dazu wird es kommen, keine Bange –, und dies, obwohl Sie unschuldig sind und keinen Bratensoßenmissbrauch begangen haben, dann baden Sie die Sache nicht einfach aus. Zweitens: Wer Sie ablehnt, weil Sie die falschen Schuhe tragen, hat keinen Respekt verdient. Und drittens: Knien Sie vor niemandem. Kämpfen Sie aufrecht für das, was Ihnen zusteht.« Die Mitglieder des Jahrgangs ’96 zogen los, sich ihre Examensurkunden zu holen, manche barfuß, andere mit Blumen im Haar, jubelnd, Fäuste reckend, tänzelnd, ungezwungen. So ist’s richtig , dachte er. Das Ganze war Welten von der Formalität in Cambridge entfernt – und viel besser.
Seine Eltern kamen nicht zur Abschlussfeier. Sein Vater sagte, sie könnten sich den Flug nicht leisten. Das war gelogen.
*
Zu seinen Zeitgenossen zählten Romanschriftsteller – Martin Amis, Ian Mc Ewan –, deren Karriere begann, sobald sie aus dem Ei geschlüpft waren; und wie erhabene Vögel flogen sie zum Himmel auf. Seine eigenen frühen Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Eine Zeitlang wohnte er in der Acfold Road abseits der Wandsworth Bridge Road in der Dachkammer eines Hauses, das er sich mit seiner Schwester Sameen und drei Freunden aus Cambridge teilte. Er zog die Trittleiter hoch, schloss die Luke, war allein in seiner dreieckigen Welt aus Holz und gab vor zu schreiben. Dabei hatte er keine Ahnung, was er da tat. Lange wollte kein Buch Gestalt annehmen. Die Verwirrung dieser frühen Tage – eine innere Verwirrung, wie er später begriff, eine Unsicherheit darüber, wer und was aus ihm seit der Abreise aus Bombay geworden war – hatte schädlichen Einfluss auf seine Persönlichkeit. Oft war er unfreundlich und brach wegen unwichtiger Dinge einen hitzigen Streit vom Zaun. Er stand unter Druck und musste sich Mühe geben, seine Angst zu verbergen. Was er anpackte, ging schief. Um sich vom Scheitern in der Dachkammer abzulenken, schloss er sich alternativen Theatergruppen im Oval House in Kennington an, den Gruppen ›Sidewalk‹ und ›Zatch‹, zog ein langes schwarzes Kleid über, setzte sich eine blonde Perücke auf und spielte eine männliche Kummerkastentante in einem Stück von Dusty Hughes, einem Cambridger Studienkollegen. Er gehörte zum Ensemble des britischen Revivals von Viet Rock , einer in New York von La MaMa gegründeten Anti-Vietnam-Agitpropshow. Die Auftritte konnte man nicht gerade bahnbrechend nennen; außerdem verdiente er kaum Geld, was noch schlimmer war. Ein Jahr nach seinem Abschluss in Cambridge meldete er sich arbeitslos. »Was soll ich meinen Freunden sagen?«, war es aus Anis Rushdie herausgeplatzt, als der Sohn ihm seine literarischen Ambitionen verkündete, und während er in der Schlange vorm Arbeitsamt
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