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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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urbanen Zivilisation.
    In dem als Würfel oder Ka’aba bekannten Gebäude im Zentrum der Stadt gab es Statuen von aberhundert Göttern. Eine dieser Statuen stellte die keineswegs beliebteste Gottheit namens al-Lah dar, was schlicht der Gott heißt, geradeso wie al-Lat die Göttin bedeutet. Al-Lah war insofern ungewöhnlich, als dass er sich nicht spezialisiert hatte, er war kein Regengott, kein Gott für Reichtum, kein Kriegsgott und kein Gott der Liebe, er war in unbestimmtem Sinne ein Gott für alles. Gut möglich, dass dieses Versäumnis, sich auf etwas zu spezialisieren, seine relative Unbeliebtheit erklärte. Wer den Göttern Opfer darbrachte, tat dies meist aus einem bestimmten Grund, wegen der Sorge um die Gesundheit eines Kindes, die Zukunft eines geschäftlichen Unternehmens, wegen einer Dürre, eines Streits, einer Liebesgeschichte. Dem unspezifischen Alleskönner von einem Gott zog man Götter vor, die Experten auf ihrem Gebiet waren. Und doch sollte es al-Lah sein, der so beliebt wurde, wie es keine heidnische Gottheit je zuvor gewesen war.
    Der Mann, der al-Lah aus nahezu allumfassender Unbedeutendheit befreien und sein Prophet werden sollte, der ihn dem Gott Ich bin des Alten Testaments und dem dreieinigen Gott des Neuen Testaments ebenbürtig oder doch wenigstens gleichwertig machen sollte, war Mohammed ibn Abdullah aus der Familie Banu Haschim (für die während seiner Kindheit schwere Zeiten anbrachen), ein Waisenkind, das im Hause eines Onkels lebte. Als Teenager begann er, Abu Talib, seinen Onkel, auf Handelsreisen nach Syrien zu begleiten. Und während dieser Reisen dürfte er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die ersten Christen kennengelernt haben, Anhänger der nestorianischen Sekte, deren Geschichten vieles aus dem Alten und Neuen Testament übernahmen, um es ihren regionalen Gegebenheiten anzupassen. So etwa wurde den Nestorianern zufolge Jesus Christus in einer Oase unter einer Palme geboren. Laut Koran offenbarte der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed später eine als ›Maryam‹, also Maria, bekannte Sure, der zufolge Jesus in einer Oase unter einer Palme geboren wurde.
    Mohammed ibn Abdullah erwarb sich den Ruf, ein geschickter Händler und ehrlicher Mann zu sein, was ihm im Alter von fünfundzwanzig Jahren das Heiratsangebot einer älteren, reichen Frau namens Chadidscha einbrachte; und in den nächsten fünfzehn Jahren war er erfolgreich im Beruf und glücklich in der Ehe. Allerdings muss er ein Mann gewesen sein, der eine gewisse Einsamkeit brauchte, verbrachte er doch viele Jahren lang immer wieder einige Wochen damit zu, wie ein Eremit in einer Höhle auf dem Berg Hira zu leben. In seinem vierzigsten Lebensjahr störte seine Zurückgezogenheit der Engel Gabriel und befahl ihm vorzutragen, zu rezitieren. Natürlich glaubte Mohammed sogleich, den Verstand verloren zu haben, und floh. Er kehrte erst zurück, um sich anzuhören, was der Engel zu sagen hatte, nachdem ihm von seiner Frau und engen Freunden zugeredet worden war, dass sich eine Rückkehr auf den Berg unter Umständen doch lohnen könne und es vermutlich eine gute Idee sei, noch einmal zu prüfen, ob Gott wirklich mit ihm in Kontakt treten wolle.
    Es fiel leicht, vieles von dem zu bewundern, was geschah, als der Händler sich in den Sendboten Gottes verwandelte, es fiel leicht, wegen der Nachstellungen und anschließenden Flucht nach Medina Mitgefühl für ihn zu empfinden und seine rasche Entwicklung in der Oasensiedlung Yathrib zu einem anerkannten Gesetzgeber, fähigen Herrscher und geschickten Militärführer anzuerkennen. Es fiel zudem leicht, zu sehen, wie die Offenbarung direkt von Ereignissen im Leben des Sendboten, aber auch von jener Welt beeinflusst wurde, in die hinein der Engel den Koran offenbarte. Als Muslime im Kampf starben, wurden deren Brüder vom Engel prompt ermuntert, die Witwen zu heiraten, damit die Trauernden nicht jemanden außerhalb ihrer Gemeinschaft heirateten und dem Glauben verloren gingen. Und als die vom Propheten geliebte Aischa sich einmal in der Wüste verirrte und sich, so das Gerücht, mit einem gewissen Safwan ibn Marwan unschicklich verhielt, beeilte sich der Engel des Herrn mit der Versicherung, dass die tugendhafte Dame nach Gottes Ansicht keineswegs herumgetändelt habe. Im eher allgemeinen Sinne war darüber hinaus offenkundig, dass das Ethos des Koran, das von ihm gebilligte Wertesystem, im Grunde dem überlieferten Verhaltenskodex nomadischer Araber entsprach, einer

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