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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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rund um Cambridge abschreiten sah. Beide, Morris wie Saltmarsh, waren Schüler von Sir John Clapham, jenem Gelehrten, der die Wirtschaftsgeschichte zu einem ernsthaften Studiengebiet gemacht hatte, und beide gaben bereitwillig zu, dass Arthur Hibbert, der Dritte in King’s historischer Trinität, ihr brillantester Kopf war, ein Genie, das laut Collegelegende im Geschichtsexamen die Fragen beantwortet hatte, über die es am wenigsten wusste, um für die Antworten die ihm zugewiesene Zeit ausnutzen zu können. Hibbert, beschloss Rushdie, war der richtige Mann für sein Problem; und Hibbert half ihm, ohne einen Moment zu zögern. »Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet«, sagte er bescheiden, »aber ein wenig kenne ich mich aus. Wenn Sie mich also nehmen wollen, bin ich gern bereit, Ihre Arbeit zu betreuen.«
    Dieses Angebot wurde von dem jungen, trotzköpfigen Studenten, der an einem Glas Sherry nippend in Hibberts Büro stand, dankbar angenommen. Und damit nahmen die Dinge ihren Lauf. Das Spezialthema ›Mohammed, der Aufstieg des Islam und das frühe Kalifat‹ war nie zuvor angeboten worden, und im akademischen Jahr 1967/1968 entschied sich nur dieser eine, verstockte Student dafür; im folgenden Jahr wurde es folglich mangels Interesse nicht noch einmal ausgeschrieben. Für diesen einen Studenten aber war es, als würde mit dem Thema eine Vision seines Vaters Wirklichkeit. Er studierte das Leben des Propheten und die Geburt der Religion als Ereignisse innerhalb der Geschichte, analytisch, sachlich, vernünftig . Es war, als wäre es eigens für ihn geschaffen worden.
    Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gab Arthur Hibbert ihm einen Rat, den er nie vergessen sollte. »Sie dürfen erst über Geschichte schreiben«, sagte er, »wenn Sie die Menschen reden hören.« Jahrelang musste er daran denken, und letztlich fand er in diesem Rat auch ein wertvolles Leitprinzip für das Schreiben von Romanen. Wenn man kein Gefühl dafür hatte, wie die Menschen redeten, kannte man sie nicht gut genug, und deshalb konnte – durfte – man ihre Geschichte nicht erzählen. Die Art, wie die Menschen sprachen, ob in kurzen, abgehackten Sätzen oder langen, umständlichen Wendungen, verriet viel über sie: ihre Herkunft, ihre gesellschaftliche Klasse, ihr Temperament, ob ruhig oder aufgebracht, warmherzig oder kaltblütig, unflätig oder gebildet, höflich oder derb; und über das Temperament hinaus verriet sie auch ihre wahre Natur, intellektuell oder bodenständig, offen oder verschlagen, und ja, gut oder schlecht. Wäre das alles gewesen, was er zu Arthurs Füßen lernte, es wäre genug gewesen. Aber er lernte weit mehr. Er lernte eine Welt kennen. Und in dieser Welt wurde eine der größten Religionen der Welt geboren.
    *
    Sie waren Nomaden, gerade sesshaft geworden, ihre Städte noch neu. Mekka war erst wenige Generationen alt. Yathrib, später in Medina umbenannt, glich einer Ansammlung einzelner Lagerstätten um eine Oase, die nicht einmal eine ernstzunehmende Mauer schützte. Mit ihrem neuen städtischen Leben mussten sie sich erst abfinden, und viele waren mit den Veränderungen unzufrieden.
    Eine nomadische Gesellschaft ist konservativ, hat viele Regeln und schätzt das Wohlergehen der Gruppe höher als individuelle Freiheit, doch schließt sie alle ein. Die nomadische Welt war ein Matriarchat. Im Kreis ihrer weitläufigen Familien fanden selbst Waisenkinder Schutz sowie ein Gefühl von Identität und Zugehörigkeit. All das änderte sich nun. Die Stadt wurde zum Patriarchat und die Kleinfamilie ihre bevorzugte Familienform. Immer mehr Menschen besaßen keine Bürgerrechte, und sie wurden von Tag zu Tage unzufriedener. Mekkas Wohlstand aber wuchs, und das gefiel den Herrschenden. Vererbung folgte nun der männlichen Linie. Auch das sagte den regierenden Familien zu.
    An den Toren zur Stadt standen Tempel zu Ehren der drei Göttinnen al-Lat, al-Manat und al-Uzza. Geflügelte Göttinnen, erhabenen Vögeln gleich. Oder Engeln. Jedes Mal, wenn die Handelskarawanen, denen die Stadt ihren Reichtum verdankte, durch die Tore aus- und einzogen, hielten sie an einem der Tempel und brachten Opfer dar. Oder, um es mit einem modernen Wort auszudrücken: Sie zahlten Steuern. Die wohlhabendsten Familien in Mekka kontrollierten die Tempel, und jene ›Opfergaben‹ machten einen Großteil ihres Reichtums aus. Die geflügelten Göttinnen waren von entscheidender Bedeutung für die Wirtschaft der neuen Stadt, dieser im Entstehen begriffenen

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