Joseph Anton
einen Sitz im Rat der Stadt. Vielleicht war es diese Verlockung, der der Prophet kurzzeitig erlag.
Und was passierte dann? Brachen die Granden der Stadt ihr Versprechen, weil sie meinten, Mohammeds Flirt mit dem Polytheismus habe ihn bei den eigenen Anhängern in Misskredit gebracht? Oder weigerten sich die Anhänger, die Offenbarung über die Göttinnen anzuerkennen? Bedauerte Mohammed gar selbst, seine Idee aufs Spiel gesetzt zu haben, als er dem Sirenengesang allgemeiner Verträglichkeit nachgab? Die Fantasie muss die Lücken in der Überlieferung füllen. Allerdings spricht der Koran selbst davon, dass alle Propheten einer Prüfung unterzogen wurden. »Und Wir schickten vor dir keinen einzigen Gesandten oder Propheten, dessen Wünsche Satan nicht durchkreuzte.« Wenn aber der Vorfall der satanischen Verse die Versuchung Mohammeds war, dann muss gesagt werden, dass er ziemlich gut davongekommen ist. Er hatte eingestanden, in Versuchung geführt worden zu sein, und hatte widerrufen. Tabari zitiert ihn folgendermaßen: »Ich habe Dinge gegen Gott ersonnen und ihm Worte unterstellt, die er nicht gesagt hat.« Danach blieb der so in der Esse gehärtete Monotheismus des Islam trotz aller Verfolgung, trotz Exil und Krieg stark und unerschütterlich; und schon bald darauf besiegte der Prophet seine Feinde; der neue Glaube breitete sich wie ein Lauffeuer über die Welt aus.
»Sollte Gott Töchter haben, während ihr Söhne habt? Das wäre eine ungerechte Verteilung .«
Die ›wahren‹ Verse, ob nun die des Satans oder die des Engels, ließen keinen Zweifel zu: Es war die Weiblichkeit der geflügelten Göttinnen – der erhabenen Vögel –, die sie unterlegen und scheinheilig machte, die bewies, dass sie anders als die Engel nicht Kinder Gottes sein konnten. Manchmal offenbart die Geburt einer großen Idee etwas über ihre Zukunft; die Umstände, unter denen die Neuigkeit in die Welt gelangt, sagt voraus, wie sie im Alter sein wird. Bei der Geburt dieser bestimmten Idee hielt man Weiblichkeit jedenfalls für etwas, was nicht zum Erhabenen qualifizierte.
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Gute Story , dachte er, als er das las. Damals träumte er schon davon, Schriftsteller zu werden, und er speicherte die gute Story für künftige Zeiten. Zwanzig Jahre später sollte er herausfinden, wie gut die Story tatsächlich war.
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JE SUIS MARXISTE, TENDANCE GROUCHO lautete das Graffito in jenem revolutionären Frühling in Paris. Einige Wochen nach den Pariser événements im Mai 1968 und einige Nächte vor seiner Abschlussfeier hatte ein anonymer Witzbold, sicher ein Marxist mit Groucho- Tendenzen, beschlossen, in seiner Abwesenheit sein bourgeoises, elitäres Collegezimmer sowie Wände und Möbel, Plattenspieler und Kleider mit Hilfe eines Eimers voll Bratensoße und Zwiebeln zu verzieren. Gemäß jener alten Tradition von Fairness und Gerechtigkeit, der sich die Colleges von Cambridge rühmen, machte King’s ihn allein für diese Schweinerei verantwortlich, ignorierte gegenteilige Aussagen und wies darauf hin, dass er, falls er nicht sofort für den entstandenen Schaden aufkam, nicht zum Examen zugelassen würde. Es war das erste, doch leider nicht das letzte Mal, dass ihm vorgeworfen wurde, Unrat verbreitet zu haben.
Er zahlte und ging aus Trotz mit braunen Schuhen zur Abschlussfeier. Prompt fischte man ihn aus der Parade seiner anständig schwarz beschuhten Altersgenossen heraus und trug ihm auf, sich umzuziehen. Studenten in braunen Schuhen fand man rätselhafterweise unpassend gekleidet, und auch dagegen konnte keine Berufung eingelegt werden. Wieder gab er nach, flitzte los, um sich andere Schuhe anzuziehen und sich in null Komma nichts erneut der Parade anzuschließen. Als er an die Reihe kam, hatte er sich am kleinen Finger eines Universitätsbeamten festzuhalten und dem Mann langsam dorthin zu folgen, wo der Vizekanzler auf einem mächtigen Thron saß. Er kniete dem alten Mann zu Füßen, hielt in einer Geste der Unterwerfung die Hände hoch, Handteller aneinander, und bat auf Latein um die Examensurkunde, für die er, wie er unwillkürlich dachte, drei Jahre lang hart gearbeitet hatte, in denen er darüber hinaus von seinen Eltern mit einer beachtlichen Summe unterstützt worden war. Man hatte ihm geraten, die Hände hoch über den Kopf zu halten für den Fall, dass der Vizekanzler, wenn er sich vorbeugte, um nach seinen Händen zu greifen, aus seinem Thron vornüberkippen und auf ihn fallen sollte.
Dachte er heute an diese Tage zurück,
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