Joseph Anton
Sphären‹ war eine fast wahre Geschichte, angelehnt am Selbstmord seines engen Cambridge-Freundes Jamie Webb, der über okkulte Themen schrieb, schizophren wurde und sich schließlich erschoss. Die längste Geschichte, ›Der Courter‹, war noch in Arbeit. Mitte der Sechziger, als seine Eltern von Bombay nach Kensington zogen, nahmen sie seine alte mangalorische ayah Mary Menezes mit, damit sie sich um seine jüngste Schwester kümmerte, die damals erst zwei Jahre alt war. Doch Mary bekam schreckliches Heimweh, ihre Sehnsucht, woanders zu sein, zerbrach ihr das Herz. Sie bekam tatsächlich Herzprobleme und ging schließlich nach Indien zurück. Kaum war sie dort, hörten die Herzprobleme auf und kehrten nie wieder. Sie wurde weit über hundert Jahre alt. Die Vorstellung, dass man an einem gebrochenen Herzen tatsächlich sterben konnte, war es wert, darüber zu schreiben. Er verquickte Marys Geschichte mit der eines osteuropäischen Hausmeisters, dem er bei der Londoner Werbeagentur Ogilvy & Mather begegnet war, ein älterer Herr, der kaum Englisch konnte und an den Nachwirkungen eines Schlaganfalls litt, aber ein derart geschickter Schachspieler war, dass ihm nur wenige Gegner gewachsen waren. In seiner Erzählung verliebten sich der wortlose Schachspieler und die heimwehkranke ayah ineinander.
*
Die Polizei hatte sich für ihn und Elizabeth eine kleine Überraschung ausgedacht. Sie durften das legendäre Black Museum von Scotland Yard besuchen, das der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich war. Er fror, als er das Museum betrat, denn die Temperatur wurde sehr niedrig gehalten. Der Kurator John Ross, der sich um die bizarre Sammlung von Mordinstrumenten und anderen Verbrechens-Memo rabilien kümmerte, sagte, er wünschte, die britische Polizei dürfte Menschen töten. Vielleicht war ihm die lange Nähe zu diesen Tötungsinstrumenten aufs Gehirn geschlagen. Das Museum besaß zahlreiche versteckte Waffen – als Regenschirm getarnte Feuerwaffen, als Gummiknüppel getarnte Feuerwaffen, Messer, mit denen man schießen konnte. Sämtliche Fantasiewaffen aus Krimis und Spionageromanen lagen hier säuberlich aufgereiht und hatten allesamt jemanden getötet. »Damit schulen wir unseren Nachwuchs«, sagte Mr Ross. »So kapieren sie, dass alles Mögliche eine Pistole sein kann.« Hier lag die Pistole, mit der Ruth Ellis, die letzte durch den Strang gestorbene Frau Englands, ihren Liebhaber David Blakely ermordet hatte. Hier lag die Pistole, mit der der Sikh Udham Singh den ehemaligen Gouverneur des Punjab, Sir Michael O’Dwyer, erschossen hatte, um das einundzwanzig Jahre zuvor verübte Amritsar-Massaker vom 13. April 1919 zu rächen. Hier standen der Herd und die Wanne des Serienmörders Dennis Nilsen, der seine Opfer in seiner Wohnung gekocht und zerlegt hatte. Und hier war Heinrich Himmlers Totenmaske.
Mr Ross erzählte, Dennis Nilsen habe kurz bei der Polizei gedient, war aber nach einem Jahr wieder rausgeschmissen worden, weil er schwul war. »Tja, heute wäre das nicht mehr möglich«, sinnierte Mr Ross. »Heute könnten wir das nicht mehr machen.«
In einem Einmachglas stand ein Paar menschlicher Unterarme. Sie gehörten zu einem britischen Mörder, der auf seiner Flucht nach Deutschland erschossen worden war. Scotland Yard hatte die deutschen Kollegen gebeten, ihnen die Fingerabdrücke der Leiche zukommen zu lassen, um den Toten zu identifizieren und den Fall damit abzuschließen. Stattdessen hatten die Deutschen die Unterarme ge schickt. » Sie nehmen die Fingerabdrücke«, sagte Mr Ross mit über zogenem deutschem Akzent. »Da blitzt der gute alte deutsche Humor auf.« Als kleines Schmankerl hatte man ihm, dem potentiellen Mordopfer, eine Führung durch die Welt des Mordens gegeben. Tja, da blitzt der gute alte britische Humor auf, dachte er.
Mit den lebhaften Bildern aus dem Black Museum im Kopf, nahm er am Abend mit John Walsh, Melvyn Bragg, D. J. Enright und Lorna Sage an einer Gedenklesung für Anthony Burgess im Royal Court Theatre teil. Er las den Teil aus Clockwork Orange , in dem Alex und seine Droogs den Verfasser eines Buches namens Die Uhrwerk-Orange überfallen. Er hatte viel über das nachgedacht, was Burgess ›Ultragewalt‹ nannte (einschließlich der Gewalt gegen Schriftsteller), über den Glamour des Terrorismus, der verlorenen, hoffnungslosen jungen Männern das Gefühl von Macht und Einfluss gab. Der russisch inspirierte Slang, den Burgess für sein Buch erfunden hatte, umschrieb
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