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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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südindischen Namen Jackie Cohen, und bombardierte ihn mit Fragen.
    Nach ein paar Minuten wurde der alte Mr Cohen ungeduldig. »Wieso fragen Sie so viel?«, raunzte er. »Na ja, ich bin Schriftsteller und möchte vielleicht etwas über diesen Ort schreiben«, antwortete er. Jackie Cohens knochiger Arm winkte ab. »Das ist nicht nötig«, sagte der Hausmeister leicht von oben herab. »Wir haben bereits ein Faltblatt.«
    Über den Besuch in Kerala hatte er Tagebuch geführt, denn irgendeine schriftstellerische Eingebung hatte ihm geraten, ihn festzuhalten. Nun brachte ihn dieses Tagebuch, das er aus der St. Peter’s Street zurückbekommen hatte, zu seiner Arbeit zurück. Tagelang versenkte er sich hinein und ließ die Erinnerungen an den herrlichen Hafen von Kochi, an die Pfefferhallen, in denen das ›schwarze Gold von Malabar‹ gelagert wurde, und an die großen Pankhas in der Kirche, in der Vasco da Gama begraben worden war, wiederauferstehen. Während er im Geiste die Straßen des jüdischen Viertels durchwanderte, wurde der Kochi-Teil von Des Mauren letzter Seufzer in ihm lebendig. Aurora Zogoiby und ihr Sohn Moraes entführten ihn in ihre Welt.
    Sein Albtraum war lang und die Rückeroberung der Literatur zäh gewesen. Jeden Tag dachte er an William Nygaard und dessen Schussverletzungen, an den getretenen, niedergestochenen Ettore Capriolo, an Hitoshi Igarashi, der tot neben einem Aufzugschacht in einer Blutlache lag. Nicht nur er, der infame Autor, sondern die ganze Welt der Bücher – die Literatur selbst – war gedemütigt, beschossen, getreten, mit dem Messer attackiert, getötet und gebrandmarkt worden. Doch das wahre Leben der Bücher hatte mit dieser Welt der Gewalt nichts zu tun und ließ ihn den von ihm so geliebten Diskurs neu entdecken. Er trat aus seinem fremden Alltag und versank in der Figur der Aurora, in ihrem Glamour, ihrem bohemehaften Exzess, ihren malerischen Betrachtungen von Sehnsucht und Begehren, und verschlang sie wie ein Verhungernder ein Festmahl.
    Er hatte einmal gelesen, Lenin habe Doubles angeheuert, die an seiner Stelle durch die Sowjetunion reisten und Reden hielten, und überlegte, dass es lustig wäre, wenn die Leninisten in Kerala, wo der Kommunismus viele Anhänger hatte, zu demselben Zweck indische Lenins anwerben würden. Der Too-Tall-Lenin, der Too-Short-Lenin, der Too-Fat-Lenin, der Too-Skinny-Lenin, der Too-Lame-Lenin, der Too-Bald-Lenin und der Too-Thless-Lenin zogen in seine Seiten ein und verliehen ihnen Schwung und Leichtigkeit. Vielleicht würde es doch noch ein gutes Buch werden. Des Mauren letzter Seufzer würde sein erster Erwachsenenroman seit Die satanischen Verse sein. Es hing sehr viel davon ab, wie es aufgenommen wurde. Er versuchte solche Gedanken zu verdrängen.
    Obwohl sein tägliches Leben jetzt weniger chaotisch war als zu der Zeit, als er Harun und das Meer der Geschichten geschrieben hatte, war es schwer, zu tiefer Konzentration zurückzufinden. Sein Versprechen an Zafar hatte Harun trotz aller Umzüge und Unsicherheiten vorangebracht. Jetzt hatte er ein Heim und ein schönes Arbeitszimmer und war dennoch abgelenkt. Er zwang sich zu seinen alten Gewohnheiten. Morgens gleich nach dem Aufstehen setzte er sich ohne zu duschen oder sich anzuziehen an den Schreibtisch, manchmal sogar ohne sich die Zähne putzen, und zwang sich, dort sitzen zu bleiben, bis er mit seiner Arbeit begonnen hatte. »Die Kunst des Schreibens besteht darin, seinen Hosenboden auf den Stuhl zu drücken«, hatte Hemingway gesagt. Setz dich hin , befahl er sich. Wehe, du stehst auf . Und ganz allmählich kehrte seine alte Stärke zurück. Die Welt verschwand. Die Zeit stand still. Glücklich sank er der verborgenen Tiefe entgegen, in der ungeschriebene Bücher ihrer Entdeckung harrten wie Geliebte, die einen Beweis vollkommener Hingabe einforderten, ehe sie sich zeigten. Er war wieder Schriftsteller.
    Wenn er nicht am Roman schrieb, ging er alte Geschichten durch und überlegte sich neue für seinen Erzählungsband Osten, Wes ten – das Komma stand für ihn selbst. Die drei ›Osten‹- und die drei ›Westen‹-Geschichten waren bereits fertig, jetzt galt es, die drei abschließenden Erzählungen kulturellen Crossovers zu entwickeln. ›Chekov und Zulu‹ handelte von Star Trek -besessenen indischen Diplomaten zur Zeit von Indira Gandhis Ermordung, und seine Freundschaft mit Salman Haidar beim indischen Hochkommissariat lieferte ihm nützliche Anregungen. ›Die Harmonie der

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