Joseph Anton
müssen bitte sofort stehen bleiben.« Wie durch ein Wunder war ein Dolmetscher aufgetaucht. »Jetzt haben sie das Kaninchen doch noch aus dem Hut gezogen«, sagte er noch immer lächelnd und ging weiter. »Sir, was tun Sie da, bitte, das ist nicht erlaubt.« Er lächelte noch breiter. »Sagen Sie ihnen, wenn ich eine Straftat begehe, sollen sie mich festnehmen und ins Gefängnis stecken. Ansonsten will ich, dass sie mir in zwei Minuten den britischen Botschafter ans Telefon holen.« Zwei Minuten später sprach er mit der Botschaft. »Gott sei Dank«, sagte der Botschaftsangestellte am anderen Ende der Leitung. »Wir haben den ganzen Tag versucht, herauszufinden, wo Sie abgeblieben sind. Sie sind komplett vom Schirm verschwunden.«
Wenige Minuten darauf traf der Mann von der Botschaft ein. Noch nie hatte er sich so sehr gefreut, einen Diplomaten zu sehen. »Sie haben ja keine Ahnung, was hier los war. Beinahe hätten die Ihr Flugzeug umdrehen und zurück nach Hause fliegen lassen«, sagte er. Jetzt, da sich die internationale Diplomatie eingeschaltet hatte, war es Elizabeth und ihm erlaubt , in ein richtiges Hotel überzuwechseln, wo sie von einer Delegation chilenischer Schriftsteller begrüßt wurden, darunter Antonio Skármeta, der Autor des 1985 erschienenen Romans El Cartero de Neruda , der gerade unter dem Titel Il Postino verfilmt worden war. Skármeta, ein großer Mann mit einem großen Herzen, begrüßte ihn mit offenen Armen und einer Flut von Entschuldigungen. Ein Skandal. Eine Schande für uns Chilenen. Aber jetzt, wo wir wissen, dass Sie hier und in Sicherheit sind, machen wir das wieder gut.
Manche Dinge waren möglich und manche nicht. Für den Termin bei der Buchmesse war es bereits zu spät. Doch tags darauf sollte es in einem kleinen Theater eine Zusammenkunft von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten geben, wo es ihm erlaubt war, eine Rede zu halten. Danach sollten er und Elizabeth auf dem Weingut Concha y Toro und auf einer wunderschönen Estancia südlich von Santiago in den Geschmack der wahren chilenischen Gastfreundschaft kommen. Schöne Erlebnisse, deren Schnappschüsse jedoch verblassten und verschwanden. Das Bild ihres kurzen ›Verschwindens‹ in der Hand der Carabineros blieb bestehen. Chile schien kein Land zu sein, das man allzu bald wieder besuchen sollte.
Schnappschüsse aus Argentinien. Mitte der Siebziger war er in London zu einem Vortrag von Jorge Luis Borges gegangen, und dort oben auf dem Podium neben dem großen Schriftsteller, der aussah wie eine traurigere, südamerikanische Ausgabe des französischen Komikers Fernandel, saß eine wunderschöne junge, japanisch anmutende Frau. Wer ist das ?, hatte er gedacht, und jetzt, nach all den Jahren, kam sie auf sie zu, Borges’ legendäre Witwe María K. mit dem schwarzweiß gesträhnten Haar, um sie in Buenos Aires will kommen zu heißen und mit ihnen in dem nach ihr benannten Restaurant zu Mittag essen zu gehen. Danach brachte sie sie zu ihrer Fundación Internacional Jorge Luis Borges, die nicht in Borges’ ehemaligem Wohnhaus, sondern im Nachbargebäude untergebracht war, da der jetzige Besitzer das Haus nicht verkaufen wollte; das Haus der Fundación war das Spiegelbild des ›echten‹ Hauses, und es erschien passend, Borges mit einem Spiegelbild ein Denkmal zu setzen. Im Obergeschoss befand sich eine getreue Nachbildung seines Arbeitszimmers, eine kahle, enge, mönchische Zelle mit einem schlichten Tisch, einem Stuhl mit kerzengerader Lehne und einer Pritsche in der Ecke. Die übrigen Räume standen voller Bücher. Hatte man nicht das Glück gehabt, Borges selbst begegnet zu sein, so reichte das Kennenlernen seiner Bibliothek nahe heran. In diesen polyglotten Regalen standen die vom Autor so geliebten Ausgaben von Stevenson, Chesterton und Poe, dazu Bücher in nahezu allen erdenklichen Sprachen. Er erinnerte sich an die Anekdote der Begegnung zwischen Borges und Anthony Burgess. Wir haben den gleichen Namen , hatte Burgess dem argentinischen Meister gesagt, und um sich in einer gemeinsamen Sprache unterhalten zu können, die niemand der Umstehenden verstand, einigten sie sich auf Angelsächsisch und plauderten fröhlich in Beowulfs Idiom.
Es gab einen ganzen Raum voller Enzyklopädien, Nachschlagewerke zu jedem Thema, deren Seiten zweifellos das berühmte Lexikon aus Borges’ großartiger ficción ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ mit dem trügerischen Namen Anglo-American Cyclopedia hervorgebracht hatten, ein
Weitere Kostenlose Bücher