Joseph Anton
über moderne Architektur erwähnt wurde und, ja, er merkte, dass er Mexiko liebte. Doch all das war nicht der Punkt.
Der Punkt war, dass Carlos Fuentes eines Abends in Mexiko-Stadt sagte: »Es ist verrückt, dass Sie noch nie Gabriel García Márquez getroffen haben. Zu schade, dass er gerade in Kuba ist, denn wenn sich zwei Autoren kennenlernen sollten, dann Gabo und Sie.« Dann stand er auf, verließ das Zimmer, kehrte wenige Minuten später zurück und sagte: »Da ist jemand am Telefon, den Sie sprechen müssen.«
García Márquez behauptete, er könne kein Englisch, doch in Wirklichkeit verstand er es ziemlich gut. Sein Spanisch wiederum war ziemlich jämmerlich, doch wenn die Leute nicht zu viel Dialekt benutzten oder zu schnell sprachen, konnte er sie recht gut verstehen. Die einzige Sprache, die sie beide beherrschten, war Französisch, und so versuchten sie sich darin zu verständigen, wiewohl García Márquez – den man sich unmöglich als ›Gabo‹ vorstellen konnte – immer wieder ins Spanische verfiel und ihm mehr Englisch herausrutschte als beabsichtigt. Doch auf dem Schnappschuss, den seine Erinnerung von ihrer langen Unterhaltung gemacht hat, gab es seltsamerweise kein Sprachproblem. Sie redeten einfach miteinander, herzlich, freundschaftlich, fließend, und tauschten sich über ihre Bücher und die Welten aus, denen sie entsprangen. Er redete über die vielen Seiten südamerikanischen Lebens, die ihm aus Südasien vertraut waren – beides waren Welten mit einer langen kolonialistischen Vergangenheit, in denen die Religion lebendig und wichtig und oftmals unterdrückerisch war, in denen Generäle und Zivilisten um die Macht rangen, eine riesige Kluft zwischen Reich und Arm bestand und die Korruption blühte. Es sei nicht überraschend, meinte er, dass die südamerikanische Literatur im Osten so großen Anklang fand. Und Gabo – ›Gabo!‹ Es klang anmaßend, als würde man einen Gott bei seinem heimlichen Spitznamen nennen – sagte, die orientalischen Wundersagen hätten einen großen Einfluss auf die südamerikanischen Schriftsteller ausgeübt. Sie hatten also viel gemeinsam. Und dann machte García Márquez ihm das größte Kompliment, das er je bekommen hatte. Die einzigen Schriftsteller außerhalb der spanischen Sprache, denen ich stets zu folgen versuche, sind J. M. Coetzee und Sie. Allein für diesen Satz hatte sich die Reise gelohnt.
Erst als er aufgelegt hatte, fiel ihm auf, dass García Márquez kein einziges Wort zur Fatwaverloren oder sich erkundigt hatte, wie sein Leben damit aussah. Sie hatten von Schriftsteller zu Schriftsteller gesprochen, über Bücher. Das war ebenfalls ein großes Kompliment.
Schnappschuss vom Zusammenbruch der Zeit, vor dem Tag als. Von Mexiko flogen sie über Buenos Aires und Feuerland entlang der chilenischen Küste in Richtung Neuseeland. Als sie die internationale Datumsgrenze überquerten, gab sein Hirn auf. Hätte man ihm gesagt, es sei vier Uhr dreißig am letzten Dienstag, hätte er es geglaubt. Die Datumsgrenze war verstörend, sie ließ die Zeit wie trockenes Brot zwischen den Fingern zerbröseln, und man konnte die wüstesten Behauptungen darüber anstellen, die Leute sagten dennoch, okay, sicher, warum nicht. Die Datumsgrenze entlarvte die Zeit als Fiktion, als etwas nicht Wirkliches, alles schien möglich zu sein, die Tage konnten rückwärtsgehen, wenn sie wollten, oder das Leben spulte sich ab wie ein Film, der von der Rolle eines kaputten Projektors zu Boden haspelt. Die Zeit konnte abgehackt sein, eine Reihe unzusammenhängender Momente, willkürlich und ohne Sinn, oder sie konnte verzweifelt die Arme hochreißen und enden. Diese jähe chronologische Verstörung ließ ihn schwindeln und fast besinnungslos werden. Als er wieder zu sich kam, war er in Neuseeland und zurück im tröstlichen Englisch. Doch es wartete eine noch größere Verstörung auf ihn. Er mochte die Schwingen des Todesengels nicht hören, doch sie waren dort oben und senkten sich immer tiefer auf ihn herab.
Schnappschuss von den Tagen vor dem Tag als . In Neuseeland und Australien war die Sicherheitspolizei vernünftiger, weniger aufdringlich und leichter zu ertragen. Doch es gab etwas, von dem sie nicht wussten. Als sie über die Nordinsel am Mount Ruapehu vorbeifuhren, der schon seit Monaten aktiv war und von dessen Gipfel aus sich eine grimmige Wolke quer über den Himmel zog, dachten sie nicht an Zeichen oder Omen. In Australien verbrachten sie ein Wochenende unweit
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