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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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kurzem Ihr Buch gelesen und hab einfach nicht kapiert, was die ganze Aufregung sollte!« – »Das ist gut«, antwortete er, »aber lassen Sie mich dennoch darauf hinweisen, dass Sie, der das Buch nicht gelesen hatte, die ganze Aufregung auf die Beine gestellt haben!« Er musste an das alte chinesische, zuweilen Konfuzius zugeschriebene Sprichwort denken: Man muss nur lange genug am Fluss sitzen, um die Leiche seines Feindes vorbeitreiben zu sehen.
    *
    Milan war sieben Monate alt, strahlte jeden an, brabbelte ununterbrochen, war aufgeweckt, freundlich, wunderschön. Eine Woche vor Weihnachten begann er zu krabbeln. Die Polizei packte ihre Überwachungsgerätschaften zusammen und zog aus. Am Neujahrstag sollte Frank Bishop seinen Dienst aufnehmen, und nach ein paar ›Übergangswochen‹ würden sie ihr Haus für sich haben; er und Elizabeth hatten trotz all der Enttäuschungen des vergangenen Jahres das Gefühl, dass es ein gutes Ende nahm.
    *
    Am Anfang des Jahres des Anfangs vom Ende, als er die Tür zum letzten Mal hinter den vier Polizisten schloss, die in den vergangenen neun Jahren mit den unterschiedlichsten Namen und an den unterschiedlichsten Orten mit ihm zusammengelebt hatten, und damit den Schlusspunkt der Rund-um-die-Uhr-Bewachung setzte, die Will Wilson und Will Wilton ihm zum Ende eines früheren Lebens im Lonsdale Square angeboten hatten, fragte er sich, ob dies die Rückkehr der Freiheit für sich und seine Familie bedeutete oder ob er damit ihr Todesurteil unterzeichnet hatte. War er der denkbar unverantwortlichste Mensch oder ein Realist mit dem richtigen Instinkt, der ganz privat ein neues Privatleben aufbauen wollte? Die Antwort würde nur rückblickend gegeben werden können. In zehn oder zwanzig Jahren würde er wissen, ob sein Instinkt richtig- oder falschgelegen hatte. Das Leben ging nach vorn, doch beurteilen ließ es sich nur rückwärts.
    Am Anfang des Jahres des Anfangs vom Ende, ohne die Zukunft zu kennen, mit einem Baby, das die Dinge tat, die ein Baby tun soll – zum ersten Mal allein aufrecht sitzen, sich in seinem Bettchen hochziehen, es nicht schaffen, es noch einmal versuchen, bis schließlich aus einem krabbelnden Wesen ein Homo erectus auf dem besten Weg zum Homo sapiens wurde –, dessen großer Bruder zu einem Auslandsjahr nach Mexiko aufgebrochen war (wo er von der Polizei verhaftet werden und spielende Wale beobachten und in den Teichen unterhalb der hohen Wasserfälle von Taxco baden und die fackeltragenden Taucher von den Klippen in Acapulco springen sehen und Bukowski und Kerouac lesen und seine Mutter treffen und mit ihr nach Chichén Itzá und Oaxaca reisen und seinen Vater Todesängste ausstehen lassen sollte, weil er für erschreckend lange Zeiträume nicht erreichbar war, weshalb sein Vater, der seit jenem Tag vor neun Jahren, an dem seine Anrufe unbeantwortet blieben und man das falsche Haus mit der offen stehenden Haustür identifiziert hatte, still um die Sicherheit seines Sohnes bangte), von dem der Achtzehnjährige so schlank, gebräunt und gut aussehend zurückkehren sollte, dass sein Vater, der ihn auf dem Monitor der Eingangsüberwachungskamera vor der Haustür stehen sah, ihn nicht erkannte – Wer ist das?, wunderte er sich und begriff, dass dieser junge Gott sein eigenes Kind war –, derweil all die gewöhnlichen Dinge des gewöhlichen Lebens weitergingen, wie sie es selbst inmitten eines anderen, überwältigenden und unvermindert ungewöhnlichen Daseins tun sollten, kam der Tag, Montag, der 26. Januar 1998, an dem sie allein in ihrem Haus schlafen sollten, und statt sich zu fürchten, weil es so still war und es keine Sicherheitsvorkehrungen mehr gab und keine hünenhaften Polizisten mehr im Haus schliefen, konnten sie nicht aufhören zu grinsen und gingen früh zu Bett und schliefen wie die Toten; nein, nicht wie die Toten, wie die glücklichen, sorglosen Lebenden. Und um Viertel vor vier in der Früh wachte er auf und konnte nicht mehr einschlafen.
    *
    Doch die Garstigkeit der Welt war niemals weit weg. »Eine Einreiseerlaubnis nach Indien wird es in absehbarer Zukunft für Rushdie nicht geben«, sagte ein indisches Regierungsmitglied. Die Welt hatte sich in einen Ort verwandelt, in dem sein Besuch in einem Land, das er liebte, politische Krisen auslösen konnte. Er musste an Kay in Hans Christian Andersens Märchen Die Schneekönigin denken, dem eisige Splitter eines teuflischen Spiegels in Auge und Herz drangen. Sein Splitter war die Traurigkeit,

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