Joseph Anton

alter ego geschaffen worden, ›Saleem‹ in Erinnerung an Salim Merchant, einen Klassenkameraden in Bombay (und natürlich wegen der Nähe zu ›Salman‹), und ›Sinai‹ nach dem muslimischen Universalgelehrten Ibn Sina (›Avicenna‹), gerade so wie ›Rushdie‹ sich von Ibn Ruschd herleitete. Der Saleem aus ›The Antagonist‹ war eine Figur, die man ruhig vergessen konnte und die es verdiente, dass sie die Ladbroke Grove hinauf ins Vergessen driftete, doch besaß sie eine Charaktereigenschaft, die den Mann plötzlich wieder wertvoll machte: Er war 1947 vom vierzehnten auf den fünfzehnten August um Mitternacht geboren worden, in dem ›Freiheit-um-Mitternacht‹-Augenblick der indischen Unabhängig keit von britischer Vorherrschaft. Vielleicht brauchte dieser Saleem, Bombay-Saleem, doch ein eigenes Buch.
    Er war selbst auf den Tag genau acht Wochen vor dem Ende des englischen Weltreiches geboren worden und erinnerte sich noch gut an den Witz seines Vaters: »Salman kam zur Welt, und acht Wochen später rannten die Briten davon.« Saleems Tat sollte noch beeindruckender sein. Die Briten würden sich genau im Augenblick seiner Geburt davonmachen.
    Er war im Entbindungsheim von Dr. Shirodkar zur Welt gekommen – dem bekannten Gynäkologen V. N. Shirodkar, Erfinder der berühmten ›Shirodkar-Cerclage‹, der Naht des Gebärmutterhalses –, und in seinem Buch wollte er diesen Arzt unter anderem Namen wiederauferstehen lassen. Westfield Estate mit Blick auf die Warden Road (heute in Bhulabhai Desai Road umbenannt) mit ihren von einem heimreisenden Engländer gekauften und nach königlichen Palästen umbenannten Häusern Glamis Villa, Sandringham Villa, Balmoral und dem eigenen Elternhaus, der Windsor Villa, sie würden als Methwolds Estate wiedererstehen, und aus ›Windsor‹ wurde ›Buckingham‹. Die Cathedral School, gegründet »unter der Schirmherrschaft der anglo-schottischen Bildungsgesellschaft«, sollte ihren Namen behalten, und kleine wie große Vorfälle seiner Kindheit – wie er durch eine zuschlagende Tür eine Fingerkuppe verlor und Tony Brent ›The Clouds Will Soon Roll By‹ sang, die sonntagmorgendlichen Jazz-Jamsessions in Colaba, die Nanavati-Affäre (ein aufsehenerregender Vorfall, in dessen Verlauf ein ehrgeiziger Marineoffizier den Liebhaber seiner Frau ermordete und auch auf seine Frau schoss, sie aber nicht tödlich traf) –, all das würde, in Fiktion verwandelt, ebenfalls zur Sprache kommen. Die Tore der Erinnerung öffneten sich, die Vergangenheit strömte herbei. Er hatte ein Buch zu schreiben.
    Eine Zeitlang schien es, als sollte dies ein einfacher Roman über seine Kindheit werden, doch machte sich schon bald bemerkbar, wel che Auswirkungen das Geburtsdatum seines Protagonisten hatte. Wenn sie Zwillinge waren, dieser aufs Neue ersonnene Saleem Sinai und die neugeborene Nation, dann musste das Buch die Geschichte beider Zwillinge erzählen. Geschichte überflutete seine Seiten, gewaltig und vertraut, kreativ und destruktiv, und er begriff, seinem Werk hatte bislang auch diese Dimension gefehlt. Er war studierter Historiker, und was wesentlich an der Historie war, dass man nämlich begriff, wie das Leben einzelner Menschen, Gemeinschaften, Nationen und gesellschaftlicher Klassen von großen Kräften geformt wurde, sie aber dennoch zuzeiten die Fähigkeit bewahrten, diese Kräfte in bestimmte Richtungen zu lenken, musste auch für die Fiktion wesentlich sein. Seine Aufregung wuchs. Er hatte eine Schnittstelle zwischen dem Privaten und Öffentlichen gefunden, und er würde sein Buch an genau diesem Scheideweg ansiedeln. Das Politische und das Persönliche konnten nicht länger getrennt bleiben. Sie lebten schließlich nicht mehr in den Tagen von Jane Austen, die ihr ganzes Werk während der napoleonischen Kriege verfasste, ohne diese ein einziges Mal zu erwähnen, und für die die Rolle der britischen Armee vor allem darin bestanden hatte, ihre Soldaten Paradeuniformen tragen und auf Partys hinreißend aussehen zu lassen. Er würde sein Buch auch nicht im kühlen Englisch eines E. M. Forster schreiben. Indien war nicht kühl; es war heiß . Es war heiß, übervölkert, vulgär und laut, und es brauchte eine Sprache, die dazu passte – und er wollte diese Sprache finden.
    Ihm wurde klar, dass er ein gigantisches Alles-oder-nichts-Projekt in Angriff nahm und dass das Risiko des Scheiterns weit größer als die Möglichkeit schien, damit Erfolg zu haben, doch ertappte er sich bei