Joseph Anton
wiederholten Scheitern, ein anständiger, publizier barer Schriftsteller zu sein oder zu werden. Er beschloss, die Kritik anderer Leute an seinen Texten zu ignorieren und stattdessen seine eigene Kritik zu formulieren. Schließlich begann er bereits zu ahnen, dass an seinem Schreiben grundlegend etwas nicht stimmte, dass an ihm selbst etwas falsch und missverstanden war. Wenn er es nicht geschafft hatte, der Schriftsteller zu sein, zu dem er das Zeug in sich zu haben meinte, dann lag es vielleicht daran, dass er nicht wusste, wer er eigentlich war. Und so begann er an diesem schmählichen Tiefpunkt seiner literarischen Laufbahn allmählich zu begreifen, wer dieser Mensch, der er war, wohl sein mochte.
Er war ein Migrant. Er gehörte zu denen, die an einem Ort gestrandet waren, der nicht der Ort war, an dem es für sie begonnen hatte. Jede Migration kappt die herkömmlichen Wurzeln der eigenen Person. Der verwurzelte Mensch gedeiht an einem Ort, den er gut kennt, unter seinesgleichen, die er gleichfalls gut kennt, folgt Bräuchen und Traditionen, mit denen er und seine Gemeinschaft vertraut sind, und er unterhält sich mit den anderen in einer ihnen gemeinsamen Sprache. Von diesen vier Wurzeln – Ort, Gemeinschaft, Kultur und Sprache – hatte er drei verloren. Sein geliebtes Bombay gab es für ihn so nicht mehr; als die Eltern alt wurden, hatten sie ohne jede Diskussion das Haus seiner Kindheit verkauft, eigenartigerweise um nach Karatschi zu ziehen, nach Pakistan. Sie lebten nicht gern in Karatschi, wie denn auch! Im Vergleich zu Delhi war Karatschi, was Duluth im Vergleich zu New York ist. Keiner ihrer vorgeblichen Gründe schien ihm stichhaltig. Sie fühlten sich, sagten sie, als Muslime in Indien zunehmend fremd. Sie wollten, sagten sie, gute muslimische Ehemänner für ihre Töchter finden. Wirklich höchst seltsam. Nach einem glücklich ohne Religion gelebten Leben brachten sie nun religiöse Gründe vor. Er glaubte ihnen kein Wort und war davon überzeugt, dass geschäftliche Gründe, Steuerprobleme oder ähnliche handfeste Sorgen sie dazu gebracht hatten, das von ihnen geschätzte Haus und ihre geliebte Stadt zu verlassen. Irgendwas war hier faul, aber es blieb ein Geheimnis. Manchmal sagte er es ihnen auf den Kopf zu, doch gaben sie keine Antwort. Er sollte das Rätsel niemals lösen. Beide Eltern starben, ohne je zugegeben zu haben, dass es noch eine andere Erklärung für ihren Umzug gab. Und in Karatschi blieben sie so gottlos, wie sie es in Bombay gewesen waren, weshalb die religiöse Begründung weiterhin ungenügend und falsch klang.
Es verstörte ihn, dass er nicht begriff, warum sich sein Lebensgefüge derart geändert hatte. Oft fühlte er sich bedeutungslos. Gar absurd. Er war ein Junge aus Bombay, der seinen Lebensweg unter Engländern in London machte, sich aber durch ein doppeltes Gefühl der Unzugehörigkeit verflucht fand. Wenigstens die Sprachwurzel war ihm geblieben, doch begann er allmählich zu verstehen, wie schmerzlich er unter dem Verlust der übrigen Wurzeln litt und wie sehr ihn verwirrte, was aus ihm geworden war. Die Millionen Migranten dieser Welt sahen sich im Zeitalter der Migration mit enormen Problemen konfrontiert, mit Heimatlosigkeit, Hunger, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Verfolgung, Entfremdung und Angst. Er zählte zu den Glücklicheren, doch blieb ein großes Problem: das der Authentizität. Das Migranten-Ich wurde unweigerlich heterogen statt homogen, schließlich gehörte es zu mehr als einem Ort, zu vielen eher als zu einem, sprach auf mehr als eine Seinsweise an, war mehr als gewöhnlich durchmischt. War es möglich, nicht etwa wurzellos zu sein, sondern im vielfach Verwurzelten aufzugehen? Nicht darunter zu leiden, dass einem die Wurzeln fehlten, sondern von einem Übermaß an Wurzeln zu profitieren? Die diversen Wurzeln brauchten nicht von gleicher oder nahezu gleicher Stärke zu sein, trotzdem sorgte er sich, dass seine Verbindung zu Indien geschwächt war. Er musste die verlorene indische Identität für sich zurückfordern, fürchtete er doch, sie sonst zu verlieren. Das wahre Ich war beides, sein Ursprung wie auch seine Reise.
Um die Bedeutung seiner Reise zu begreifen, musste er zurück an ihren Anfang und unterwegs lernen.
An diesem Punkt seiner Überlegungen fiel ihm ›Saleem Sinai‹ wieder ein. Dieser in West-London beheimatete Proto-Saleem war eine untergeordnete Figur in seinem aufgegebenen Manuskript ›The Antagonist‹ gewesen und bewusst als sein
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