Joseph Anton
mehr vollständig öffnen und der Zustand verschlimmerte sich, vor allem am rechten Auge. Seine Sicht wurde zunehmend eingeschränkt. Wenn er sich nicht operieren ließ, lief er Gefahr, die Augen eines Tages gar nicht mehr öffnen zu können. Sein schläfriger Sleepy-LaBeef-Blick war oft als Zeichen von Verschlagenheit angesehen worden, doch nun stellte sich heraus, dass es sich um ein medizinisches Leiden handelte.
Die Koryphäe für Ptosis- OP s war Mr Richard Collin. Er wurde an das King Edward VII Hospital for Officers überwiesen, »wo sich die gesamte Königsfamilie operieren lässt«, erzählte Mr Collin ihm, doch kurz vor seiner OP teilte man ihm mit, die Oberschwester habe sich aus Sicherheitsgründen geweigert, ihn aufzunehmen. Glücklicherweise gelang es dem Team, sie umzustimmen, und die OP konnte stattfinden. Es setzte ihm jedes Mal enorm zu, der Angst anderer Menschen ausgeliefert zu sein, es glich einer Ohrfeige, die er nie erwidern konnte. Am Tag vor der OP rief Clarissa an. Zafar habe beschlossen, das College hinzuschmeißen. Er hasste es. Es sei ein ›Drecksloch‹. Ihm sei angeboten worden, einen Londoner Nachtclub zu leiten; er hoffte, Konzerte veranstalten zu können, und habe einen Freund, mit dem sich eine Veranstaltung im Wembley-Stadion organisieren lasse, und das sei das Leben, das er wollte. Außerdem habe er Schulden bei der Bank, und auch dafür müsse man eine Lösung finden. Es schien, als lebte er ›in einem Wolkenkuckucksheim‹, wie Clarissa sich ausdrückte, und wieder einmal brachte die Sorge sie einander näher. Zafar brauchte jetzt starke, einige Eltern. Sie redeten mit ihm, und er willigte ein, die Sache mit dem Wembley-Konzert fallen zu lassen. Doch er war nicht glücklich darüber.
*
Als er nach der OP wieder zu Bewusstsein kam, waren seine Augen verbunden. Er rief »Hallo?«, doch niemand antwortete. Er rief noch einmal und noch einmal, ohne Erfolg. Er wusste nicht, wo er war, er war blind, und niemand redete mit ihm. Vielleicht war irgendetwas entsetzlich schiefgelaufen. Vielleicht war er gekidnappt worden. Oder vielleicht befand er sich in einem Vorraum zur Hölle und wartete darauf, dass der Teufel sich mit ihm befasste. Hallo hallo hallo – keine Antwort – kann mich jemand hören – nein, niemand – ist hier jemand ist da jemand – wenn ja, dann sagten sie es zumindest nicht. Die Minuten oder Wochen buchstäblich blinder Panik hatten ein Ende, als eine Schwester sagte, ja, sie sei da, es tue ihr leid, Elizabeth sei gerade zum Schlafen nach Hause gegangen, es sei drei Uhr morgens, und sie sei kurz auf dem Klo gewesen. Super Timing , dachte er, ausgerechnet wenn ich aus der Narkose aufwache, muss die Schwester pinkeln.
Am Vormittag wurde der Verband abgenommen, und es gab einen weiteren bizarren Moment, als seine Augenlider, statt den Befehlen seines Hirns zu folgen, unabhängig voneinander wild flatterten, und dann beruhigte sich alles, er war nicht durch ein abgerutschtes Skalpell erblindet, und man brachte ihm einen Spiegel, und seine Augen waren weit geöffnet. Das rechte vielleicht ein bisschen zu weit. »Ja«, sagte Mr Collin, »wir warten eine Woche ab und müssen dann eventuell ein wenig korrigieren.«
Seine neuen Lider hatten ihren Einstand bei einem traurigen, aber gewollt fröhlichen Anlass, der im Haus von Ruth und Richard Rogers begangen wurde: Nigella Lawson und John Diamond feierten ihren zehnten Hochzeitstag. Die Prognosen für John waren schlecht, schlechter als schlecht, weitere Eingriffe waren zwecklos, die Chemo konnte allenfalls noch ein bisschen Zeit schinden. Seine Freunde versammelten sich, um sein Leben zu feiern, und John hielt eine ›Rede‹, indem er sie aufschrieb und sie zeitgleich an eine hohe, weiße Wand projizierte, und das Eindrücklichste daran war, dass sie für viele Lacher sorgte.
Unterdessen zeigten seine neuen Lider bei seinen Mitmenschen eine erstaunliche Wirkung. Haben Sie eine neue Brille? Sie sehen so gut aus! Waren Sie in der Sonne? Sie sehen so … glücklich aus! Als die Presse Wind von der Geschichte bekam, brachte die Sunday Times einen beinahe entschuldigenden Artikel darüber, wie sie ihn in all den Jahren gesehen hatte. Nun war dem Blatt aufgegangen, dass sein »unnahbarer, arroganter, finsterer Gangsterblick« einer Fehlfunktion der Augenlider geschuldet war. Er sehe »verjüngt und wie neu geboren aus«, hieß es in dem Artikel. »Wie Blicke täuschen können.«
Ehe Richard Collin sein allzu glotziges
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