Joseph Anton
sich, darüber zu reden.
In Gabriel García Márquez’ großartigem Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera trennen sich die Liebenden Fermina Daza und Florentino Ariza blutjung und kommen an ihrem Lebensabend wieder zusammen. Negin Rushdie bekam ebenso eine Lebensabendliebe geboten, doch aus Gründen, die sie nie preisgab, widerstand sie ihr. Auch dafür gab es einen literarischen Vorgänger, in Edith Whartons Zeit der Unschuld : In Begleitung seines erwachsenen Sohnes sitzt der alte Newland Archer wie gelähmt auf einem kleinen französischen Platz unter dem markisenbeschatteten Balkon der Wohnung seiner alten Liebe, der Comtesse Olenska, unfähig, nach all den Jahren die Treppe hinaufzusteigen und sie zu sehen. Vielleicht wollte er nicht, das sie ihn als alten Mann sah. Vielleicht wollte er sie nicht als alte Frau sehen. Vielleicht war die Erinnerung an das, was er nicht wahrzunehmen gewagt hatte, zu überwältigend. Vielleicht hatte er es zu tief vergraben, konnte es nicht mehr exhumieren, und die Furcht, mit der Comtesse Olenska zusammen zu sein und nicht mehr das zu fühlen, was er einst gefühlt hatte, war ihm unerträglich.
»Dies hier hat für mich mehr Wirklichkeit, als wenn ich hinaufginge«, hörte er sich plötzlich sagen, und aus Furcht, dass dieser letzte Schatten der Wirklichkeit in ihm verblassen könnte, blieb er wie angewurzelt sitzen, während die Minuten verrannen.
Negin Rushdie hatte keines der beiden Bücher gelesen, doch hätte sie es getan, hätte sie Ferminas und Florentinos glücklicher Wiedervereinigung nicht geglaubt, oder besser, etwas in ihr weigerte sich, an solch ein Ende zu glauben. Sie war erstarrt, genau wie Newland Archer, die Jahre hatten sie mattgesetzt, und obleich Liebe in ihren Augen aufglomm, sobald sein Name fiel, konnte sie ihren Gefühlen nicht Folge leisten. Wäre er zurückgekehrt, wäre es für sie weniger wirklich gewesen als ohne ihn. Also antwortete sie auf seine Briefe nicht, rief ihn nie an und traf ihn in den sechzehn Jahren, die ihr blieben, nicht wieder. Sie starb als die Witwe ihres Mannes und als die Mutter ihrer Kinder und konnte oder wollte ihrer Geschichte kein neues letztes Kapitel mehr hinzufügen. Manchmal war Liebe nicht genug.
Anis Rushdie war vor Negin auch schon einmal verheiratet gewesen. Dass es für beide die zweite Ehe war, war für ihre Klasse, für den Ort und die Zeit ungewöhlich. Über Anis’ erste Frau wurde den Kindern nur gesagt, dass sie misslaunig gewesen sei und sie sich ständig gestritten hätten. (Die Kinder wussten, wie misslaunig auch ihr Vater sein konnte.) Und sie wussten auch von einer großen Tragödie. Anis und seine erste Frau hatten eine Tochter gehabt, ihre Halbschwester, deren Namen sie nie erfuhren. Eines Nachts rief die erste Frau Anis an und sagte, das Mädchen sei sehr krank und drohe zu sterben, doch er glaubte, die Geschichte sei ein Vorwand, um ihn wieder für sich zu gewinnen, also ignorierte er die Nachricht, und das kleine Mädchen starb. Als er vom Tod seiner Tochter hörte, stürzte er sofort zum Haus seiner Frau, doch wie sehr er auch schluchzend gegen die Tür hämmerte, sie wollte ihn nicht hereinlassen.
Die Heirat zwischen Anis und Negin blieb ihrem Sohn ein Rätsel. Den heranwachsenden Kindern erschien es ein unglückliches Leben, in dem der Vater seiner zunehmenden Enttäuschung in nächtlichen, vom Whiskey befeuerten Wutanfällen Luft machte, vor denen die Mutter ihre Kinder zu schützen suchte. Mehr als einmal versuchten die älteren Kinder Sameen und Salman, sie zu einer Scheidung zu überreden, damit sie jedes Elternteil ohne die Nebenwirkungen der unglücklichen Ehe genießen konnten. Anis und Negin nahmen den Rat ihrer Kinder nicht an. Jenseits des nächtlichen Elends gab es etwas, das beide für ›Liebe‹ hielten und an das sie beide glaubten, so dass man sagen konnte, es exisierte. Das Rätsel, das engen Beziehungen anderer Menschen innewohnt, das unfassbare Überleben der Liebe inmitten der Lieblosigkeit: Das war etwas, das er aus dem Leben seiner Eltern lernte.
Und auch: Wenn beide Eltern bereits eine Ehe geschieden hatten und dann ein unglückliches Leben ›in Liebe‹ führten, wuchs man in dem Glauben auf, dass Liebe vergänglich war, dass sie ein dunkleres, brutaleres, weniger angenehmes und tröstliches Gefühl war, als es einen die Lieder und Filme glauben machten. Und wenn das stimmte, was war dann mit seinen zerbrochenen Ehen – welche Lehre gab er seinen Söhnen mit auf
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