Joseph Anton
den Weg? Ein Freund hatte einmal zu ihm gesagt, nicht die Scheidung sei eine Tragödie, sondern das Fortführen einer unglücklichen Ehe. Doch der Schmerz, den er den Müttern seiner Kinder zufügte, diesen beiden Frauen, die ihn inniger liebten als sonst irgendjemand, trieb ihn um. Seinen Eltern gab er keine Schuld, ihm ein schlechtes Beispiel gegeben zu haben. Für sein Handeln trug er die alleinige Verantwortung. Egal, welche Wunden das Leben ihm geschlagen hatte, die Wunden, die er Clarissa und Elizabeth zufügte, waren schlimmer. Er hatte sie beide geliebt, doch seine Liebe war nicht stark genug gewesen.
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Er hatte seine Schwestern geliebt, und sie alle hatten einander geliebt, doch auch diese Beziehungen waren größtenteils zerbrochen. Sameen und er waren einander sehr nah geblieben. Als Kinder war er der brave Junge und sie das freche Mädchen gewesen. Er hatte sie bei ihren Eltern rausgehauen, und sie hatte für ihn andere Kinder verprügelt. Einmal kam der Vater eines Jungen, den sie versohlt hatte, ein gewisser Mohan Mathan, zu ihnen in die Windsor Villa und beschwerte sich bei Anis. »Ihre Tochter hat meinen Sohn umgehauen!«, schrie er aufgebracht, und Anis musste lachen. »An Ihrer Stelle würde ich ein bisschen leiser reden, sonst weiß es die ganze Nachbarschaft.«
Die Bande zwischen ihnen waren stets eng geblieben, doch irgendwann ging ihnen auf, dass dies für ihre Schwester Bunno – eigentlich hieß sie Nevid, doch in der Familie wurde sie nur Bunno genannt – unerträglich war. Sie war fünf Jahre jünger als er und vier Jahre jünger als Sameen, und ihre Kindheit war davon geprägt, von der Intimität ihrer älteren Geschwister ausgeschlossen zu sein. Schließlich verkrachte sie sich mit ihren Eltern und Geschwistern und ging nach Kalifornien, um ihnen möglichst fern zu sein. Die ›verlorene Schwes ter‹ schmerzte ihn häufig, doch dann platzte sie wieder so gewalt sam in sein Leben, dass er abermals zurückschreckte. Irgendwann versteifte sie sich auf die irrsinnige Behauptung, er und Sameen hätten sie um ihr Erbe gebracht, und drohte, ihn öffentlich anzuzeigen. Er musste Anwälte hinzuziehen, um sie davon abzubringen, und danach redeten sie sehr lange nicht miteinander. Die Jüngste der Familie, Nabeelah, genannt Guljum, startete als große Schönheit und begabte Baustatikerin, doch dann zerstörte die psychische Labilität ihre Arbeit, ihre Ehe, ihre familiären Beziehungen, und schließlich forderte das Leben seinen Tribut, sie fing an, Tabak zu kauen und verschrei bungspflichtige Medikamente zu schlucken und zu essen, bis ihre Schönheit unter einem Berg Fett begraben wurde und man sie eines Tages tot in ihrem Bett fand. So kam es, dass die Jüngste von ihnen die Erste war, die ging.
In seiner Familie war Liebe meist nicht genug gewesen.
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Es war der zehnte Jahrestag der Bücherverbrennung von Bradford und der zehnte Jahrestag der Fatwa – Zehn Jahre! , dachte er, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man Spaß hat –, und die üblichen Leute gaben die üblichen Laute von sich. Mr Shabbir Akhtar, den The Independent einen ›brillanten‹ Denker nannte, sagte, heute würden sie Die satanischen Verse nicht mehr verbrennen, weil sie sich nicht mehr ›ausgeschlossen‹ fühlten. (In den folgenden Jahren sollten viele britische Muslime, darunter auch einige der verbissensten Widersacher, behaupten, die Hetze gegen den Roman sei falsch gewesen. Manche hielten lediglich die Taktik für verfehlt, weil es die Bekanntheit des Autors und die Buchverkäufe gefördert habe, doch andere gingen so weit zu sagen, sie hätten gelernt, wie wichtig es sei, die Meinungsfreiheit zu verteidigen.) Am Valentinstag sagte die iranische Revolutionsgarde in Teheran, die Fatwa werde ›vollstreckt‹, und Kopfgeld-Sanei bestätigte, dass seine ›Auslöschung‹ nach wie vor auf der Agenda sei. Doch es gab weder Märsche oder Kundgebungen in Moscheen noch ranghohe Ayatollahs, die blutrünstige Predigten hielten. Es gab also weniger Lärm, als er befürchtet hatte.
Nach wie vor drängte er die Polizei auf mehr Freiheit. Jetzt, da Frank Bishop auf seine Kosten für ihn arbeitete, könnte er bestimmt noch weitere Aufgaben übernehmen und ihnen nebenbei auch eine Menge Geld sparen. Er hatte genug über den Unterschied zwischen ›Bedrohung‹ und ›Gefahr‹ gelernt, um zu wissen, dass die ihm drohende Gefahr, wenn er unangemeldet auf einer privaten Party, in einem Restaurant, einem Theater oder einem Kino
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