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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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es diese neuen elektronischen Horizonte, diese neue »terra incognita , die sich unmittelbar vor einem in alle Himmelsrichtungen erstreckt« und in der Bellows Augie einst das menschliche Abenteuer ausmachte. Hätte es dieses ›Google ‹ schon 1989 gegeben, hätte sich der Mordaufruf gegen ihn so schnell und rapide verbreitet, dass er keine Chance gehabt hätte. Er hatte Glück gehabt, dass er noch vor dem Heraufdämmern des Informationszeitalters im Fadenkreuz gestanden hatte. Doch heute war nicht er derjenige, der starb.
    Ihr blieben keine vierundzwanzig Stunden mehr, sagten sie ihm, und er saß an ihrem Bett und hielt ihre und Zafars Hand, und Zafar hielt ihre andere und seine andere Hand. Tim und seine Frau Allison und Clarissas enge Freundinnen Rosanne und Avril waren auch da. Irgendwann driftete sie in etwas Tieferes als Schlaf, und Zafar nahm ihn beiseite und fragte: »Du hast gesagt, am Ende geht es sehr schnell – ist es das jetzt? Es sieht aus, als wäre alles Leben aus ihr gewichen.« Ja, dachte er, das könnte es gewesen sein, und er ging zu ihr, um Abschied zu nehmen. Er beugte sich über sie und küsste sie dreimal auf die Schläfe – und peng! , saß sie aufrecht im Bett und öffnete die Augen. Wow, was für ein Kuss , dachte er, und sie sah ihm direkt in die Augen und fragte mit panischem Blick: »Ich sterbe doch nicht, oder?« »Nein«, log er, »du ruhst dich nur aus«, und für den Rest seines Lebens würde er sich fragen, ob es richtig war, sie anzulügen. Wenn er solch eine Frage auf seinem Totenbett stellte, würde er die Wahrheit wissen wollen, doch angesichts der Furcht in ihren Augen war er unfähig gewesen, sie auszusprechen. Danach schien sie ein wenig zu Kräften zu kommen, und er machte einen weiteren schrecklichen Fehler. Er nahm Zafar mit nach Hause, damit er sich ein paar Stunden ausruhte. Doch während sie schliefen, verlor sie abermals das Bewusstsein und ließ sich durch die orphischen Kräfte der Liebe nicht mehr zurückholen. Diesmal kehrte sie nicht wieder. Mittags um zwölf Uhr fünfzig klingelte das Telefon, und als er Tims Stimme hörte, wusste er, eine Dummheit begangen zu haben. Zafar, dieser große, starke junge Mann, lag den ganzen Weg zum Krankenhaus schluchzend in seinen Armen, während die Polizisten sie in Windeseile nach Hammersmith fuhren.
    Clarissa starb. Sie starb. Tim und Rosanne waren am Ende bei ihr gewesen. Ihr Körper war durch einen Vorhang abgeschirmt. Ihr Mund war leicht geöffnet, als wollte sie etwas sagen. Sie fühlte sich kühl, aber noch nicht vollkommen kalt an. Zafar konnte ihren Anblick nicht ertragen. »Das ist nicht meine Mutter«, sagte er, verließ den Raum und sah sie auch als Tote nicht mehr an. Er selbst konnte nicht von ihrer Seite weichen. Er saß an ihrem Bett und redete die ganze Nacht über mit ihr. Er redete über ihre lange Liebe und über seine Dankbarkeit für den Sohn, den sie ihm geschenkt hatte. Er dankte ihr noch einmal, dass sie ihn durch diese harten Zeiten gebracht hatte. Es war, als wären die Jahre ihrer Trennung plötzlich verschwunden und als hätte er wieder vollständigen Zugriff auf ein früheres Ich, auf eine alte Liebe, und das in dem Moment, als all das unwiederbringlich verlorenging. Trauer übermannte ihn, und haltlos schluchzend machte er sich eine Menge Vorwürfe.
    Er hatte befürchtet, Zafar könnte seine Trauer ähnlich wie Clarissa unterdrücken, doch stattdessen redete sein Sohn tagelang und ließ all die Dinge wiederaufleben, die seine Mutter und er gemeinsam unternommen hatten, die Fahrradtouren, die Segelferien, ihre Zeit in Mexiko. Er war beeindruckend erwachsen und tapfer. »Ich bin sehr stolz auf meinen Jungen«, schrieb er in sein Tagebuch, »und will ihn mit meiner Liebe umfangen.«
    Clarissa wurde am Nachmittag des 13. November 1999 im Golders-Green-Krematorium eingeäschert. Dem Leichenwagen zu folgen war unerträglich. Angesichts der letzten Reise ihrer Tochter brach die Mutter Lavinia vollkommen zusammen, und er legte seinen Arm um die weinende Frau, um ihr Halt zu geben. Dann traten sie ihren Weg durch Clarissas London an, in dem sie gemeinsam und getrennt gelebt hatten – Highbury, Highgate, Hampstead. Er schluchzte innerlich auf. Mehr als zweihundert Menschen warteten am Krematorium auf sie, und in allen Gesichtern spiegelte sich Trauer. An ihrem Sarg sprach er über ihre erste gemeinsame Zeit, darüber, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte, als sie Mama Cass Eliott bei einer

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