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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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sie waren mit Quads durch die walisischen Hügel gefahren und hatten wochenlange Fahrradtouren durch Frankreich gemacht. Während der Krisenjahre seines Vaters war sie jeden Tag für ihn da gewesen und hatte es ihm ermöglicht, eine Kindheit zu haben und mit beiden Beinen auf der Erde zu bleiben. Nicht dieses Elternteil hätte Zafar verlieren dürfen.
    »Oh, mein lieber, guter Junge«, schrieb er in sein Tagebuch, »welchen Schmerz ich dir helfen muss zu ertragen.« Die Röntgenaufnahmen zeigten, dass der Krebs den Knochen erreicht hatte, und auch das konnte nur er Zafar beibringen. Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen, und zitternd ließ er sich einen Moment lang in die Arme schließen. Die Ärzte sagten, wenn Clarissa auf die Therapie ansprang, könnte sie noch ein paar Jahre haben. Er glaubte nicht daran und beschloss, seinen Sohn mit den düsteren Aussichten zu konfrontieren. »Zafar«, sagte er, »wenn ich etwas über Krebs weiß, dann, dass es sehr schnell gehen kann, sobald er den Körper fest im Griff hat.« Er dachte an seinen Vater, an die Schnelligkeit, mit dem das Myelom ihn am Ende getötet hatte. »Ja«, sagte Zafar in einem Ton, der nach Zustimmung verlangte, »aber sie hat doch wenigstens noch einige Monate, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es ist eine Frage von Wochen oder nur Tagen. Am Ende ist es, als stürzte man von einer Klippe.« Zafar sah ihn an, als hätte man ihn geohrfeigt: »Oh«, sagte er. »Oh.«
    Sie lag im Hammersmith Hospital, und ihr Zustand verschlechterte sich rapide. Tim sagte, man habe auch in ihren Lungen Krebs gefunden. Sie trug eine Sauerstoffmaske, um besser atmen zu können, und konnte keine feste Nahrung zu sich nehmen. Die Geschwindigkeit, mit der sie abbaute, war erschreckend. Weil sie so schwach war, waren den Ärzten vom Hammersmith die Hände gebunden.
    Sie konnten erst operieren oder mit der Chemo beginnen, wenn sie das Problem der Lungenflüssigkeit in den Griff bekommen hatten, und Clarissa baute immer mehr ab.
    Sie lag im Sterben, das wusste er. Und es würde schnell gehen.
    Zafar rief den Chefarzt des Hammersmith, Mr Waxman, an, der den Fall nicht am Telefon besprechen wollte und Zafar bat, ins Krankenhaus zu kommen. »Das bedeutet nichts Gutes«, sagte Zafar, und er sollte recht behalten. Dann suchte Zafar Clarissas Hausarzt auf, der zugab, »zwei schwere Fehler« gemacht zu haben. Er hatte ihre Brustschmerzen beim ersten Mal nicht ernst genommen und seine Haltung auch bei ihren wiederholten Klagen nicht geändert. »Brustschmerzen werden zu fünfundachtzig Prozent durch Stress ausgelöst, und ich habe mich an die Statistiken gehalten«, sagte er. Außerdem hatte sie zwei Monate zuvor eine Mammografie gehabt, und auf der war nichts zu sehen gewesen. Doch der Krebs war nicht in die Brust zurückgekehrt. Seit Juni oder Anfang Juli hatte sie sich über Schmerzen beklagt, meinte Zafar, und der Arzt hatte nichts unternommen. Und nun sagte dieser gefühllose Mensch dem Sohn der sterbenden Frau rücksichtslos und brutal ins Gesicht: »Sie hatte bereits eine sehr ernste Krebserkrankung, und ich bin mir nicht sicher, ob sie das jemals wirklich verinnerlicht hat. Jetzt sind ihre Tage gezählt.«
    »Das Schwein kriege ich dran«, schrieb er in sein Tagebuch. »Den kriege ich dran.«
    Am Nachmittag des 2. November 1999, einem Dienstag, ging er sie mit Zafar besuchen. Sie war hager und gelb und so schwach, so verängstigt. Sie konnte kaum noch die Schecks unterschreiben, die sie ausstellen musste. Sie weigerte sich, ihr Testament zu unterschreiben, doch am Ende tat sie es doch. Waxman erwog, umgehend mit der Chemotherapie zu beginnen, denn das sei ihre einzige Chance, und es gebe eine sechzigprozentige Chance auf Erfolg, doch überzeugt klang er nicht. In Zafars Blick lag tiefe Verzweiflung, und obgleich sein Vater sich bemühte, möglichst positiv zu klingen, änderte sich daran nichts.
    Am folgenden Morgen sagte Waxman, Clarissa habe nur noch wenige Tage zu leben. Sie hatten mit der Chemo begonnen, doch nachdem sie negativ darauf reagiert habe, hätten sie sie absetzen müssen. Man konnte nichts mehr tun. »Doch«, sagte Zafar, der die ganze Nacht im Internet verbracht hatte und auf ein Wundermittel gestoßen war. Für all das sei es zu spät, sagte Mr Waxman ihm behutsam.
    Das Internet. Das war ein neues Wort, mit dem sie umzugehen lernten. Es war das Jahr, in dem zum ersten Mal jemand das Wort Google in seiner Gegenwart benutzt hatte. Jetzt gab

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