Joseph Anton
Meinung aufzuwarten, und er hatte deshalb große Ehrfurcht vor diesen Kollegen – Thomas Friedman, Maureen Dowd, Charles Krauthammer und anderen –, die jede Woche mit zwei solcher Meinungen aufwarten konnten. Es war sein drittes Jahr, und er hatte bereits über Anti-Amerikanismus, Charlton Heston und die National Rifle Association, Kaschmir, Nordirland, den Kosovo, den Protest gegen die Evolutionstheorie in Kansas, Jörg Haider, Elián González und Fidschi geschrieben. Er hatte das Gefühl, dass ihm allmählich die Ideen ausgingen, und ließ bei Gloria B. Anderson vom New York Times -Syndikat durchblicken, dass er die Kolumne vielleicht irgendwann aufgeben müsse. Energisch versuchte sie ihn davon abzubringen. Viele seiner Kolumnen hätten einen nachhaltigen Eindruck gemacht, sagte sie. Zu Beginn des Jahres 2000 habe er geschrieben, »der entscheidende Kampf des neuen Zeitalters sei der zwischen Terrorismus und Sicherheit«. Er sei geradezu prädestiniert, darüber zu schreiben, meinte sie, und wenn er recht habe, wovon sie überzeugt sei, dann »wird die Medienagenda bei Ihnen anklopfen, und die Leute werden wissen wollen, was Sie dazu zu sagen haben«.
Gloria wusste ebenso wenig wie er, wie jäh und eindringlich sich die von ihr vorausgesagte Schwerpunktverlagerung der Medien agenda vollziehen sollte. Niemand sah aus dem Fenster des Klassenzimmers zu dem geflügelten Sturm hinüber, der sich auf dem Schulhof sammelte. Er wusste ebenso wenig wie Gloria, dass die Vögel, die sich auf dem Klettergerüst im Schulhof niederließen, kurz vor dem Angriff standen.
Seine Aufmerksameit war woanders. In England erschien ein neuer Roman von ihm. Auf dem Umschlag war ein Schwarzweiß-Foto des Empire State Building zu sehen, über dem eine kleine, schwarze, an den Rändern strahlende Wolke stand. Es war ein Buch über Wut, doch sein Autor hatte keine Ahnung, welche Wut noch kommen sollte.
Seit Grimus war kein Roman von ihm so schlecht aufgenommen worden. Ein oder zwei Kritiker mochten das Buch und besprachen es einfühlsam und verständnisvoll. Für viele andere britische Rezensenten war es eine dürftig verschleierte Autobiografie, und mehr als eine Kritik war mit einem Bild von ihm und seiner ›heißen neuen Freundin‹ garniert. Das war zwar schmerzlich, doch am Ende entließ es ihn in eine neue Art der Freiheit. Es war ihm immer sehr wichtig, manchmal zu wichtig gewesen, gute Rezensionen zu erhalten. Jetzt erkannte er, dass auch dahinter nur die Falle lauerte, geliebt werden zu wollen, in die er vor Jahren so katastrophal hineingeraten war. Egal, was man über sein neues Buch sagte, er war stolz darauf, er wusste, warum es so war und nicht anders, und fand immer noch, dass es gute künstlerische Gründe für seine Entscheidungen gab. Plötzlich war er in der Lage, sich um die Häme zu scheren. Wie jeder andere Schriftsteller auch wünschte er sich natürlich immer noch, dass man seine Arbeit schätzte. Wie jeder andere Schriftsteller auch begab er sich auf eine intellektuelle, linguistische, formale und emotionale Reise; seine Bücher waren Botschaften von dieser Reise, und er hoffte, seine Leser würden Spaß daran haben, ihn zu begleiten. Doch jetzt erkannte er, dass es zwar bedauerlich war, wenn sie seinem Weg irgendwann nicht mehr folgen mochten, ihn das jedoch nicht davon abhielt, ihn zu beschreiten. Wenn ihr nicht mitkommen wollt, tut es mir leid , sagte er im Stillen zu seinen Kritikern , ich werde diesen Weg dennoch nehmen.
*
In Telluride, Colorado, musste er darauf achtgeben, wie schnell er lief, wie rasch er die Treppen hinaufstieg, wie viel Alkohol er trank. Die Luft war dünn, und er war Asthmatiker. Doch diese Berge waren paradiesisch. Vielleicht war die Luft in jenem anderen Eden genauso dünn, dachte er, allerdings gab es in der Schlangen-Apfel-Falle irgendwo westlich des Landes Nod bestimmt keine so guten Filme zu sehen.
Jedes Jahr luden die Kuratoren des Telluride-Filmfestivals einen dritten Gastkurator hinzu, und 2001 war er an der Reihe. Er hatte eine kleine Liste ›persönlicher‹ Filme zusammengestellt, die gezeigt werden sollten, darunter Satyajit Rays Die goldene Festung über einen Jungen, der von einem früheren Leben in einer goldenen Festung voller Juwelen träumt; Andrei Tarkowskis Solaris über einen Planeten mit einer derart machtvollen Intelligenz, dass er die geheimsten Wünsche des Menschen lebendig werden lässt; und Fritz Langs epochales Stummfilmmeisterwerk Metropolis , ein
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