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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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hatten – all das musste durch den dumpfen Schleier des Jetlags bewältigt werden. Und eines Tages erhielt er in L. A. die Nachricht, mit der er seit Jahren angstvoll gerechnet hatte. John Diamond war tot. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und als die Frau, die behauptete, ihn zu lieben, fragte, was los sei, und er es ihr erzählte, antwortete sie: »Es tut mir leid, dass du traurig bist, aber jetzt musst du eben so lange traurig sein, bis du es nicht mehr bist.« In solchen Momenten meinte er, es keine weiteren zwei Sekunden mit ihr auszuhalten.
    Doch er blieb. Er blieb weitere sechs Jahre. Wenn er mit dem ernüchterten Blick seines geschiedenen Ichs auf diese Zeit zurückblickte, konnte er sein Verhalten nicht recht verstehen. Es mochte eine Form von Sturheit gewesen sein oder eine Weigerung, die Beziehung zu zerstören, für die er seine Ehe zerstört hatte, oder ein Widerwille, aus seinem Traum von einer glücklichen Zukunft mit ihr aufzutauchen, auch wenn er eine Fata Morgana war. Oder vielleicht war sie einfach zu hinreißend, um verlassen zu werden.
    Doch mit der Zeit kam ihm eine schlichtere Antwort. Er blieb bei ihr, weil er sie liebte. Weil sie einander liebten. Weil sie verliebt waren.
    In jenen Jahren beendeten sie ihre Beziehung mehrmals für kurze Zeit, und häufig war er derjenige, der sich von ihr trennte; doch schließlich bat er sie, ihn zu heiraten, und kurz nach der Hochzeit war sie diejenige, die ihn verließ. Nach ihrem Abgang fragte Milan, der bei der Trauung der Ringträger war: »Dad, wie kann ein so wunderschöner Tag nichts bedeuten?« Er wusste keine Antwort. Er empfand genauso.
    Natürlich gab es gute Phasen. Sie schufen sich ein gemeinsames Zuhause und richteten es wie jedes normale Paar begeistert ein. »Ich habe es mit dir voller Liebe und reinen Herzens aufgebaut«, sollte sie Jahre später zu ihm sagen, als sie wieder miteinander redeten, und er glaubte ihr. Es gab Liebe und Leidenschaft zwischen ihnen, und wenn es gut war, war es wirklich verdammt gut. Anlässlich der Veröffentlichung von Woede , wie Wut auf Niederländisch hieß, gingen sie gemeinsam auf den Bücherball in Amsterdam, und sie schlug ein wie eine Bombe; jeder war hingerissen von ihrer Schönheit, und die TV -Nachrichten untermalten ihren Beitrag über ihre Ankunft am Flughafen mit Charles Aznavours ›Isn’t She Lovely‹, und dann veranstalteten vier sabbernde Kritiker eine Podiumsdiskussion über einzigartiges Aussehen. Deshalb war sie glücklich und war reizend zu ihm und war die perfekte Freundin. Dennoch gab es auch dunklere und beunruhigendere Momente, und die häuften sich. Nach und nach begriff er, dass sie ihn als Konkurrenz empfand und glaubte, er stehe ihr im Licht. Sie spielte nicht gern die zweite Geige. »Du sollst nicht mitkommen«, sagte sie ihm gegen Ende ihrer Beziehung, wenn sie beispielsweise gemeinsam zu einer Filmpreisverleihung eingeladen waren, bei der seine Freundin Deepa Mehta ausgezeichnet werden sollte, »wenn du mitkommst, wollen wieder alle nur mit dir reden.« Er sagte ihr, sie könne sich nicht aussuchen, an welchen Wochentagen sie verheiratet sei. »Ich war immer stolz, mich an deiner Seite zu zeigen«, sagte er, »und es stimmt mich traurig, dass du nicht ebenso empfindest.« Doch sie war fest entschlossen, aus seinem Schatten zu treten und alleine zu punkten; und am Ende tat sie es auch.
    *
    Im Zeitalter der Beschleunigung konnte man eine Zeitungskolumne nicht ein paar Tage im Voraus schreiben. An dem Tag, an dem sein monatlicher Beitrag für The New York Times fällig war, musste er aufstehen, die Nachrichten studieren, herausfinden, welches oder welche Themen die Menschen am meisten beschäftigten, sich überlegen, was er zu einem dieser Themen tatsächlich zu sagen hatte, und bis spätestens fünf Uhr nachmittags eintausend Worte zu Papier bringen. Deadline-Journalismus war ein völlig anderes Geschäft, als Romane zu schreiben, und es brauchte eine Weile, bis er es beherrschte. Manchmal hatte es fast etwas Berauschendes, in solchem Tempo denken zu müssen. Zudem war es ein Privileg, zu den Großkommentatoren zugelassen zu sein, die aus einer recht kleinen Gruppe von Kolumnisten bestanden, die zu Meinungsmachern der Welt gesalbt worden waren. Er hatte bereits festgestellt, wie schwer es war, Meinungen zu haben, vor allem solche, die in solchen Kolumnen ›funktionierten‹ – starke, eingehend dargelegte Meinungen. Es fiel ihm schwer, Monat für Monat mit einer starken

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