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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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eintraf, überladen mit duftenden Blumen und Sandelholzspänen, war das Grab bereits ausgehoben. Die Totengräber standen am Fußende, als er am Kopfende hinabstieg und Anis ins Loch heruntergelassen wurde. Im Grab seines Vaters zu stehen und die Hand unter den verhüllten Kopf des Toten zu legen, war ein ungeheuer machtvoller Augenblick. Es machte ihn traurig, dass sein Vater, ein so kultivierter, gebildeter Mann, geboren in Ghalibs Old Delhi muhalla Ballimaran und danach jahrzehntelang glücklicher Bewohner Bombays, ein solch armseliges Ende an einem Ort fand, der nicht gut für ihn gewesen war und an dem er sich nie heimisch gefühlt hatte. Anis Ahmed Rushdie starb als enttäuschter Mann, doch endete er seine Tage wenigstens in dem Wissen, geliebt zu werden. Als sein Sohn aus dem Grab stieg, riss er sich den Nagel am linken großen Zeh auf, und er musste ins nahe Jinnah-Krankenhaus fahren, um sich eine Tetanusspritze geben zu lassen.
    *
    In den folgenden Jahren suchte Anis seinen Sohn etwa einmal jeden Monat im Traum auf. Und in diesen Träumen war er stets liebevoll, weise, geistreich, hilfsbereit und verständnisvoll, ein Vater, wie man ihn sich besser nicht wünschen konnte. Ihm kam der Gedanke, dass ihre Beziehung nach Anis’ Tod eine große Verbesserung gegenüber jener Zeit bedeutete, als sein Vater noch gelebt hatte.
    *
    Auch Saladin Chamcha in Die satanischen Verse hatte eine schwierige Beziehung zu seinem Vater Changez Chamchawaha. Ursprünglich war geplant, dass Changez ebenfalls starb, nur sollte es der Sohn nicht rechtzeitig zurück nach Bombay schaffen, um den Vater vor seinem Ende noch einmal zu sehen, weshalb er weiterhin die Last eines nicht beigelegten Konflikts mit sich herumtragen musste. Doch nichts war ihm wichtiger als das Glück und die tiefen Gefühle, die er von jenen sechs Tagen mit seinem Vater in Karatschi zurück nach London brachte, und er traf eine schwerwiegende Entscheidung: Er würde Saladin und Changez gestatten, dieselbe Erfahrung zu machen, die er mit Anis gemacht hatte. Sein Vater war gerade erst gestorben, und er würde über seinen Tod schreiben, weshalb er sich besorgt fragte, wie moralisch sein Vorgehen war. War es falsch, gar leichenschänderisch, vampiristisch? Er wusste keine Antwort. Also sagte er sich, sollte es sich beim Schreiben falsch anfühlen, würde er die Seiten zerreißen und zum ursprünglichen Plan zurückkehren.
    Er hielt sich eng an die Realität, beschrieb sogar Einzelheiten der medikamentösen Behandlung während Anis’ letzten Tagen. »Zusätzlich zu der täglichen Melphalantablette hatte man ihm eine ganze Batterie von Mitteln verschrieben, die die bösartigen Nebenwirkungen des Krebses: Anämie, die Überbeanspruchung des Herzens und so weiter, bekämpfen sollten. Isosorbid, viermal täglich zwei Tabletten, Furosemid, dreimal täglich eine Tablette, Prednisolon, zweimal täglich sechs Tabletten.« Und so weiter. Agarol, Spironolactone, Allopurinol. Eine Armee von Wundermitteln marschierte aus der Realität in die Fiktion.
    Er schrieb, wie es war, das Gesicht seines Vaters zu rasieren – wie Saladin Changez’ Gesicht rasierte –, und schrieb über den klaglosen Mut des Sterbenden im Angesicht des Todes. »Erst lernt man seinen Vater plötzlich wieder zu lieben, und dann auch noch, zu ihm aufzusehen.« Er schrieb über die schwarze Diarrhö, das Erbrechen, die Apparaturen, die Laken, die Pantoffeln, die Leichenwäsche und das Begräbnis. Und er schrieb Folgendes: » Er lehrt mich das Sterben , dachte Salahuddin. Er schlägt nicht die Augen nieder, sondern blickt dem Tod direkt ins Gesicht . An keinem Punkt während seines Sterbens sagte Changez Chamchawala den Namen Gottes.«
    Und ebenso war Anis Ahmed Rushdie gestorben.
    Als er dieses Ende schrieb, fand er nicht, dass er das Geschehene ausbeutete: Die Szene schien ihm respektvoll. Und als er damit fertig war, wusste er, sie würde im Buch bleiben.
    *
    An dem Tag, an dem er London verließ, um beim Vater zu sein, fand Marianne einen Zettel in seiner Hosentasche. Darauf stand in seiner Handschrift Robyns Name und eine Zeile aus einem Beatles-Song: excites me like no other lover . Er konnte sich nicht daran erinnern, diese Worte geschrieben zu haben, wusste auch nicht, wie lange das Papier schon in seiner Hose steckte – er hatte Robyn seit über einem Jahr nicht gesehen, und der Zettel mochte schon viel länger in seiner Hosentasche sein –, doch wurde Marianne eifersüchtig, und sie trennten

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