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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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seltsame Geschichte. Er behauptete, höchstpersönlich den schnellsten Computer der Welt nach Pakistan geschmuggelt zu haben, einen sogenannten FPS (Floating-Point System), berühmt, weil er über eine VAX -Rechnerarchitektur verfügte. Dieser Computer konnte sechsundsiebzig Millionen Recheneinheiten in der Sekunde durchführen, das menschliche Hirn etwa achtzehn. »Sogar die besten normalen Computer«, sagte er, »bringen es höchstens auf eine Million Recheneinheiten.« Dann erklärte er, dass der FPS unabdingbar für den Bau der islamischen Atombombe sei. Selbst in den Vereinigten Staaten gebe es höchstens zwanzig solcher Computer. »Falls bekannt würde, dass wir einen in unserem Lagerhaus in Lahore haben«, sagte er und lächelte glücklich, »würde sofort alle internationale Hilfe für Pakistan eingestellt werden.«
    Das war Pakistan. Wenn er Pakistan besuchte, lebte er in der Blase seiner Familie und einiger weniger Freunde, die eher Sameens alte Freunde als seine waren. Außerhalb dieser Blase lag ein Land, das ihm zutiefst fremd blieb. Hin und wieder drangen Informationen wie die von Safwan durch die Blase und bewirkten, dass er am liebsten das nächste Flugzeug bestiegen hätte, um nie wiederzukehren. Stets wurden diese Informationen von gutmütigen, lächelnden Menschen überbracht, und im Widerspruch zwischen ihrer Natur und ihren Taten lag die Schizophrenie, die dieses Land zerriss.
    Jahre später trennten sich Safwan und Guljum, und für seine schöne Schwester begann ein langer Sturz, hinab zu unfassbarer, schockierender Fettleibigkeit, mentalen Problemen und Drogenmissbrauch. Eines Tages, sie war Mitte vierzig, fand man sie tot im Bett, das jüngste von vier Kindern und das erste, das für immer gehen sollte. Da ihm die Einreise verboten blieb, konnte er nicht zu ihrer Beerdigung kommen, ebenso wenig wie zu der seiner Mutter. Als Negin Rushdie starb, brachte eine pakistanische Zeitung einen Artikel, in dem all jene, die beim Begräbnis waren, aufgefordert wurden, Gott um Vergebung dafür anzuflehen, dass sie die Mutter eines abtrünnigen Autors gewesen war. Noch ein Grund, Pakistan nicht zu mögen.
    Anis’ Stunde schlug mitten in der Nacht des elften November, keine zwei Tage nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus. Salman musste ihn zur Toilette bringen und saubermachen, nachdem das Rinnsal schwarzer Diarrhö aus ihm herausgeflossen war. Dann erbrach er einen Schwall in einen Eimer, und sie setzten ihn ins Auto, und Salman raste wie der Wind ins Aga-Khan-Krankenhaus. Später sollte er sich vorwerfen, dass sie ihn nicht daheimbehalten hatten, ihn nicht in Ruhe gehen ließen, doch redeten sie sich damals alle ein, im Krankenhaus könne man sein Leben retten, so dass er noch eine Weile bei ihnen bliebe. Es wäre besser gewesen, ihm in seinen letzten Momenten die sinnlose Brutalität der Apparaturen zu ersparen. Doch sie blieb ihm nicht erspart, und sie half nichts; dann war er nicht mehr. Trotz ihrer langen, schwierigen Ehe sank Negin zu Boden und klagte laut: »Er hat geschworen, mich nie zu verlassen, und jetzt ist er fort. Was soll ich nur tun?«
    Er legte einen Arm um seine Mutter. Er würde sich nun um sie kümmern.
    Das Aga-Khan-Krankenhaus war das beste Krankenhaus in Karatschi und für alle Ismailiten umsonst, für alle Nicht-Ismailiten aber extrem teuer, was er ganz in Ordnung fand. Man wollte die Leiche seines Vaters erst freigeben, wenn alle offenen Rechnungen beglichen waren. Zum Glück hatte er eine American-Express-Karte dabei, mit der er seinen Vater aus dem Krankenhaus freikaufen konnte, in dem er gestorben war. Als sie ihn heimbrachten, waren auf den Laken noch die Abdrücke seines Körpers zu sehen, und die alten Pantoffeln standen vor dem Bett. Die Männer kamen, Verwandte und Freunde, denn dies war ein heißes Land, und das Begräbnis fand bereits in wenigen Stunden statt. Er hätte derjenige sein sollen, der die notwendigen Anordnungen traf, doch fühlte er sich hilflos in der Fremde und wusste nicht, wen man anrufen sollte, weshalb Sameens Freunde den Friedhof aussuchten, eine Bahre besorgten und auch – das war Pflicht – einen Mullah aus der nahe gelegenen Moschee, einem modernen Gebäude, das einer in Beton gegossenen Version der geodätischen Kuppel von Buckminster Fuller glich.
    Sie wuschen Anis – zum ersten Mal sah er seinen Vater nackt –, und der Leichentuchschneider nähte ihn ins lange Totenlaken. Bis zum Friedhof war es nicht weit, und als die Totenbahre

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