Joseph Anton
nervös, aber während der idyllischen Tage, an denen sie der Indische Ozean umspülte, schien der Gedanke unmöglich, dass irgendwas schiefgehen könnte.
Er hätte auf die Vögel achten sollen, die toten, flugunfähigen Vögel, die nicht in der Lage waren, vor ihren mörderischen Verfolgern davonzufliegen. Mauritius war Welthauptstadt, Vernichtungslager und Massenfriedhof für ausgestorbene flugunfähige Vögel.
›L’île Maurice‹ war, für eine Insel dieser Größe recht ungewöhnlich, noch bis ins siebzehnte Jahrhundert von keinen Menschen bevölkert. Doch fünfundvierzig verschiedene Spezies Vögel hatten dort gelebt, von denen es viele nicht schafften, den Erdboden zu verlassen, darunter auch die Rote Ralle, der Klarinettenvogel und der Dodo. Dann kamen die Holländer, die nur von 1638 bis 1710 auf der Insel lebten, und als sie wieder abzogen, waren sämtliche Dodos tot, größtenteils von den Hunden der Siedler gerissen. Insgesamt hat man vierundzwanzig der fünfundvierzig Vogelarten auf dieser Insel ausgerottet, ebenso die früher reichlich vorhandenen Schildkröten und noch andere Lebewesen. Im Museum in Port Louis findet man das Skelett eines Dodo. Menschen schmeckten die Drontenvögel nicht, aber die Hunde waren weniger wählerisch. Sie sahen eine hilflose Kreatur und zerfetzten sie. Schließlich waren sie abgerichtete Jagdhunde. Gnade kannten sie nicht.
Die nachfolgenden holländischen und französischen Kolonialherren importierten afrikanische Sklaven, um Zuckerrohr anzubauen. Die Sklaven wurden nicht gut behandelt. Zu den Strafen gehörten Amputationen und Exekutionen. 1810 eroberten die Briten Mauritius, und 1835 wurde die Sklaverei abgeschafft. Fast alle Sklaven flohen sofort von der Insel, auf der man sie so grausam misshandelt hatte. Um sie zu ersetzen, ließen die Briten per Schiff Scharen von Kontraktarbeitern aus Indien holen. Die meisten Inder, die 1988 auf Mauritius lebten, waren selbst nie in Indien gewesen, doch sprachen viele noch Bhojpuri, eine indische Sprache, die in anderthalb Jahrhunderten zwar eine gewisse Kreolisierung durchgemacht hatte, aber noch verstehbar war; und sie waren noch Hindus und Muslime. Einen Inder aus Indien zu treffen, einen Inder, der leibhaftig auf indischen Straßen gewandelt war und echten indischen Butterfisch statt mauritianischen sacréchien gegessen hatte, der von der indischen Sonne gewärmt und vom Monsunregen durchnässt worden war und der an der indischen Küste im Arabischen Meer gebadet hatte, das glich einem Wunder. Er war ein Besucher aus uralten, mythischen Landen, und sie öffneten ihm ihre Häuser. Einer der führenden Hindi-Dichter von Mauritius, der vor kurzem zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Dichterkongress tatsächlich in Indien gewesen war, erzählte, sein Vortrag habe das indische Publikum irritiert, las er doch, wie es für ihn ›normal‹ war, statt seine Verse nach Art der indischen Hindi-Poeten rhythmisch zu deklamieren. Es war nur eine kleine kulturelle Abweichung vom ›Normalen‹, ein winziger Nebeneffekt der Migration seiner arbeitsverpflichteten Vorfahren, doch einer mit enormen Folgen für den angesehenen Dichter, denn dadurch wurde ihm deutlich, dass er trotz meisterlichen Gebrauchs der verbreitetsten indischen Sprache niemals wahrhaft dazugehören würde. Der ausgewanderte indische Autor, dem man diese Geschichte erzählte, begriff, dass Zugehörigkeit für sie beide ein großes, offenes Thema war. Sie hatten Fragen zu beantworten, die Ein-Ort-eine-Sprache-eine-Kultur-Schriftsteller nicht zu beantworten brauchten, und sie mussten sich selbst davon überzeugen, dass ihre Antworten stimmig waren. Wer waren sie und zu wem oder was gehörten sie? Oder war der Gedanke der Zugehörigkeit selbst eine Falle, ein Käfig, dem sie glücklich entkommen waren? Er kam zu dem Schluss, dass die Fragen neu gestellt werden mussten. Bei den Fragen, die er beantworten konnte, ging es nicht um Orte oder Wurzeln, sondern um die Liebe. Wen liebst du? Was kannst du zurücklassen, woran musst du festhalten? Wo bist du glücklich ?
Auf dem Literaturfestival in Cheltenham wurde ihm einmal bei einem Abendessen mit vielen indischen Schriftstellern, die in jenem Jahr geladen waren, ganz nebenbei von der indischen Autorin Githa Hariharan gesagt: »Natürlich ist Ihre Stellung in der indischen Literatur höchst problematisch.« Er war schockiert und fühlte sich leicht verletzt. »Tatsächlich?«, fragte er ein wenig dümmlich. »O ja«, sagte
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