Joseph Anton
es gerade dann zu solch einer Krise kam, da sie beide die Arbeit an einem Buch beendet hatten. Jetzt, wo es so vieles gab, worauf sie sich freuen konnten, drohte die Möglichkeit eines schrecklichen Verlustes und vergällte ihnen die Freude. »Du redest immer von dem, was du verloren hast«, sagte sie. »Dabei ist so offensichtlich, was du alles gewonnen hast.«
Dann erfuhr sie, dass ihr Antrag auf ein Guggenheim-Stipendium abgelehnt worden war, und ihre Stimmung sank. Die Ärztin sagte, die Befunde seien nicht schlüssig, doch sehe es nicht allzu gut aus. Innerhalb weniger Wochen aber verschwand die Krebsgefahr ebenso rasch wieder, wie sie aufgezogen war. Die düsteren Wolken verzogen sich. Sie war gesund. Es gab aufs Neue eine Zukunft.
Warum ließ ihn nur das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmte? Dabei hätte er kaum sagen können, was es war. Vielleicht hatte sich das gegenseitige Vertrauen bereits zu sehr abgenutzt. Sie verzieh ihm den Zettel nicht, den sie in seiner Hosentasche gefunden hatte. Und seine Entscheidung, das Haus in der Willow Road doch nicht zu kaufen, hatte Mariannes Glauben an ihre Ehe einen weiteren Schlag versetzt. Außerdem trug er selbst einige schwierige Fragen mit sich herum.
*
Clarissas Vater war von einem Hochhaus gesprungen, Robyn Davidsons Mutter hatte sich erhängt. Nun erfuhr er, dass sich Mariannes Vater auch umgebracht hatte. Was bedeutete es, dass alle wichtigen Frauen in seinem Leben Töchter von Selbstmördern waren? Er konnte oder wollte diese Frage nicht beantworten. Bald nachdem er Elizabeth West kennengelernt hatte, die seine dritte Frau und Mutter seines zweiten Sohnes werden sollte, fühlte er sich gedrängt, sie nach ihren Eltern zu fragen. Mit Erleichterung hörte er, dass es in Elizabeths Familie keinen Selbstmord gegeben hatte. Allerdings war ihre Mutter sehr jung gestorben und ihr Vater schon so alt gewesen, dass er sich nicht um sie kümmern konnte, weshalb sie von Verwandten aufgezogen worden war – wieder also dieses schwarze Elternloch.
*
Was nun ? Da diese ewige Frage bereits an ihm nagte, versuchte er, seine Fantasie aufs Neue anzukurbeln. Er las Graham Greenes Jagd im Nebel und ihn beeindruckte, wie simpel Greene seine Effekte setzte. Ein Mann sieht nicht so aus wie sein Passfoto, und das genügt Greene, eine ungewisse, gar unheimliche Welt heraufzubeschwören. Er las Klein-Dorrit und liebte wie eh und je Dickens’ Gabe, das Unbeseelte zu beseelen: Die Stadt Marseille, die den Himmel anstarrt, Fremde, jedes und alles, ein Blick so intensiv, dass vor ihm Jalousien und Fensterläden geschlossen wurden. Er las Herzog zum x-ten Mal, rieb sich aber diesmal an der Einstellung zu den Frauen in diesem Roman. Warum bildeten sich Bellows männliche Helden so gern ein, sie hätten auf sexuellem Gebiet mehr Erfolg, wenn sie nur aggressiver wären? Von Moses Herzog zu Kenneth Trachtenberg in Mehr noch sterben an gebrochnem Herzen dieselbe Fantasie. Mr B., die Unter hose blitzt , notierte er sich. Er las Der Schlüssel von Junichiro Tani zaki, und ihm gefiel diese Geschichte geheimer Tagebücher und sexueller Vergnügungen im alten Japan. Marianne fand, es sei ein böses Buch. Für ihn war es ein Buch über die manipulative Natur erotischen Begehrens. Die Seele hat viele dunkle Winkel, die manchmal von Büchern erhellt werden. Was aber meinte er, ein Atheist, mit einem Wort wie ›Seele‹? War das nur Poesie? Oder gibt es in uns etwas Unkörperliches, das mehr als Fleisch, Blut und Knochen ist, jenes Etwas, das Koestler den Geist der Maschine nannte? Er spielte mit der Vorstellung, er hätte eine sterbliche, keine unsterbliche Seele, einen Geist in einem Leib, der verschied, wenn der Körper starb. Ein Geist, der das sein könnte, was wir meinen, wenn wir Ich sagen.
Lesen war auch leben. Er las William Kennedys Billy Phelans höchster Einsatz und notierte sich voller Bewunderung: »Das Ende des Verhaltens war kein Handeln, sondern Verständnis, auf dem das Handeln basierte.« Er las Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit , wovon ihm der Schädel brummte, doch auch wenn er nur einen Bruchteil verstand, wusste er genug, um der Behauptung des großen Mannes zu widersprechen, dass wir uns dem Moment näherten, in dem wir alles wissen. Die Vervollständigung des Wissens: Nur ein Wissenschaftler konnte so verrückt oder grandios sein, sich vorzustellen, dass derlei möglich wäre.
Zia ul-Haq starb bei einem Flugzeugabsturz; es war nicht schade drum.
Ein
Weitere Kostenlose Bücher