Joseph Anton
Fähigkeit zum Staunen zu erneuern. Das schien ihm richtig, doch war Gewohnheit nicht die einzige Ursache dieses Problems. Die Menschen litten auch an einer Art bewusst gewählter Blindheit. Man tat, als gäbe es so etwas wie gewöhnlich , wie normal , und die Menschen ummantelten sich mit dieser öffentlichen Fantasie, die realitätsferner als alle realitätsferne Literatur war. Man zog sich hinter die Haustür in die verborgene Welt des Privaten zurück, in die Welt der Familie; und wenn Außenstehende fragten, wie die Dinge standen, antworteten sie, ach, alles läuft bestens, nicht viel zu berichten, Lage normal. Insgeheim aber wussten sie, dass es hinter der Tür selten langweilig zuging. Typischer war es, dass dahinter die Hölle ausbrach, dass man sich mit wütenden Vätern anlegte, betrunkenen Müttern, verärgerten Geschwistern, bekloppten Tanten, geifernden Onkeln und tatterigen Großeltern. Die Familie war keineswegs der feste Grund, auf dem die Gesellschaft ruhte; vielmehr stand sie im Zentrum eines dunklen Chaos. Es ging nicht normal zu, sondern surreal, nicht langweilig, sondern ereignisreich, nicht gewöhnlich, sondern bizarr. Ihm fiel ein, mit welcher Begeisterung er den Reith-Lectures gelauscht hatte, die Edmund Leach im BBC gab, dieser große Anthropologe und Interpret von Claude Lévi-Strauss, der ein Jahr zuvor Noel Annan ins Amt des Provost von King’s College gefolgt war. »Die Familie ist alles andere als das Fundament der guten Gesellschaft«, hatte Leach gesagt, »vielmehr ist die Familie mit ihrer beengenden Privatsphäre und ihren schäbigen Geheimnissen der Quell all unserer Unzufriedenheit.« Ja! , dachte er, damit kenne ich mich aus ! Die Familien in den Romanen, die er später schreiben sollte, gehörten zur explosiven, theatralischen, mit den Armen fuchtelnden, wilden, lauthals tobenden Sorte. Leute, die seine Bücher nicht mochten, kritisierten manchmal, dass diese fiktiven Familien so unwirklich waren – nicht ›normal‹ genug. Wohingegen Leser, die seine Bücher mochten, oft bekannten: »In diesen Familien geht’s genauso zu wie in meiner.«
Am 15. März 1988 wurden die Rechte für die englischsprachige Ausgabe von Die satanischen Verse an Viking verkauft. Das Buch erschien in London am 26. September. Das waren die letzten sechs Monate seines ›normalen Lebens‹. Danach zog man ihm rüde die Patina der Gewohnheit und Selbsttäuschung von seiner Welt ab, doch sichtbar wurde nicht ihre surreale Schönheit, sondern ihre viehische Monstrosität. Seine Aufgabe sollte es in den kommenden Jahren sein, das Schöne an ihr wiederzuentdecken, das Schöne am Biest.
*
Als Marianne in die St. Peter’s Street zog, suchte sie eine Praxis in der Nähe. Er schlug vor, sie mit seinem Hausarzt bekannt zu ma chen. »Nein«, sagte sie, »es sollte eine Frau sein.« Aber, erwiderte er, mein Hausarzt ist eine Ärztin. »Trotzdem«, lautete ihre Antwort, »ich brauche jemanden, der weiß, was ich für eine Behandlung hatte.« Sie habe, erklärte sie, Darmkrebs überstanden, dies aber in Kanada und nur dank einer fortschrittlichen Form von Therapie. (Dort sei die Therapie legal gewesen, anders als in den Staaten.) »Macht nichts, ich erkundige mich im Krebszentrum nach einer Ärztin.« Einige Tage später erzählte sie dann, sie habe eine gefunden.
Im Frühjahr 1988 dachten er und Marianne an die Zukunft. Kurzzeitig überlegten sie, ein Haus in New York zu kaufen und in London nur eine Wohnung zu behalten, aber da Zafar noch keine neun Jahre alt war, gaben sie die Idee rasch wieder auf. Sie schauten sich Häuser in Hampstead an, in der Kemplay Road, dann in der Willow Road am Rande von Hampstead Heath; für Letzteres gaben sie sogar ein Angebot ab, das auch angenommen wurde, doch zog er es schließlich wieder zurück mit der Begründung, dass ihm ein Umzug zum jetzigen Zeitpunkt schlichtweg zu viel sei. Die Wahrheit war unangenehmer: Er wollte kein Haus mit Marianne kaufen, da er sich nicht sicher war, wie lang ihre Beziehung noch hielt.
In jenem Frühjahr begann sie auch darüber zu klagen, dass sie sich wieder schlechter fühlte. Nach einem heftigen Streit, bei dem es darum ging, dass er so ›besessen‹ von Robyn sei, was in Wahrheit wohl eher auf sie selbst zutraf, meinte Marianne, ein Schatten liege auf ihr, und sie fühlte einen Schmerz tief in ihrem Leib. Sie musste zum Arzt. Sie fürchtete, diesmal an Gebärmutterhalskrebs erkrankt zu sein. Was für eine bittere Ironie, dachte er, dass
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