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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Buch, von dem er anfangs glaubte, es könne ein Theaterstück sein, vielleicht über Othello , begann in ihm zu keimen, doch als er es mehrere Jahre später niederschrieb, war es auf eine Weise gewachsen, die er damals nicht einmal erahnte. Er hatte vor, es Des Mauren letzter Seufzer zu nennen. In einem seiner Träume tauchte unterdessen eine ihm bekannte Inderin auf und verkündete, nachdem sie Die satanischen Verse gelesen hatte, er habe dafür ›eine Rechnung zu zahlen‹. Die in London angesiedelten Teile des Romans sagten ihr nichts, und die Geschichte über den Durchzug durch das Arabische Meer ›verrät mir nur, dass Sie sich fürs Kino begeistern‹. Der Traum gab eine seiner Befürchtungen preis: dass nämlich die Leser nur auf jene Teile des Romans reagierten, zu denen sie eine persönliche – ob positive oder negative – Beziehung zu haben glaubten, um dann den Rest zu ignorieren. Wie jedes Mal, wenn die Arbeit an einem Buch beendet, es aber noch nicht erschienen war, begann er, an dem zu zweifeln, was er getan hatte. Manchmal fand er seinen Roman ein bisschen unbeholfen, ein ›schlaksiges, schlabbriges Monstrum‹, um es mit Henry James zu sagen. Dann wieder war er überzeugt, es sei ihm gelungen, den Stoff zu beherrschen und etwas Schönes daraus zu formen. Mehrere Passagen machten ihm Kummer: die ›Rosa Diamond‹-Stelle, an der er von ihrer argentinischen Vergangenheit erzählte, dann Chamchas teuflische Metamorphosen im Polizeiwagen und im Krankenhaus. Er hegte ernsthafte Zweifel daran, ob die Haupterzählung funktionierte, besonders die Verwandlungsszenen, aber plötzlich lösten sich seine Zweifel in Luft auf. Das Buch war fertig, und er war stolz darauf.
    *
    Im Mai flog er für ein paar Tage nach Lissabon. Mitte der achtziger Jahre richtete die Wheatland Foundation – ein Gemeinschaftsunternehmen des britischen Verlegers George Weidenfeld mit der Amerikanerin Ann Getty, die, so The New York Times , von ihrem Mann Gordon Getty ›bezuschusst‹ wurde – überall auf der Welt eine Reihe großzügig ausgestatteter Literaturkonferenzen aus. 1989 fanden sie ein Ende, da das Getty-Weidenfeld-Gespann dem Druck des Verlustes von ›mindestens fünfzehn Millionen Dollar‹, so The New York Times , nicht länger standhielt. Einige dieser Millionen gingen fraglos im Mai 1988 für jene Konferenz im Queluz-Palast drauf, zu der sich die außergewöhnlichste Schar von Schriftstellern versammelte, die er seit dem PEN -Kongress von 1986 in New York an einem Ort gesehen hatte. Sontag, Walcott, Tabucchi, Enzensberger und so weiter. Er flog mit Martin Amis und Ian McEwan hin, und nach ihrer ›britischen‹ Podiumsdiskussion grummelten die Italiener, sie hätten zu viel über Politik geredet, schließlich gehe es bei der Literatur um ›Sätze‹, während Lord Weidenfeld knurrte, sie sähen Margaret Thatcher zu kritisch, der sie doch so viel verdankten. Während er auf der Bühne saß, zeichnete der außergewöhnliche montenegrinische Schriftsteller Danilo Kiš, der sich als begabter Karikaturist erwies, auf seinem Konferenzblock ein Bild von ihm, das er ihm nach der Sitzung schenkte. Während des PEN -Kongresses hatte Danilo den Gedanken verteidigt, dass der Staat Fantasie besitzen könne. »Tatsache ist«, sagte er, »der Staat hat sogar einen Sinn für Humor. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel für einen Staatswitz geben.« Er wohnte in Paris, als er eines Tages einen Brief von einem Freund in Jugoslawien erhielt. Beim Öffnen entdeckte er auf dem ersten Blatt einen offiziellen Stempelabdruck, der ihm Folgendes mitteilte: DIESER BRIEF IST NICHT ZENSIERT WORDEN . Kiš sah wie Tom Baker als Doctor Who aus und sprach kaum Englisch. Da Serbokroatisch für sie beide keine Alternative war, wurden sie Freunde auf Französisch. Während der Konferenz in Lissabon war Kiš bereits schwer krank – er starb 1989 an Lungenkrebs –, und seine Stimmbänder waren so stark angegriffen, dass er kaum reden konnte. Die Karikatur wurde ihm gleichsam als Ersatz für eine Unterhaltung angeboten, und er hat sie stets in Ehren gehalten.
    Die kleine Auseinandersetzung über die Äußerungen der ›britischen‹ Podiumsdiskussion war kaum mehr als ein amuse-bouche . Als eigentliches Ereignis galt die heftige Konfrontation zwischen den russischen Schriftstellern und jenen Autoren, die aus dem Gebiet stammten, das, wie sie beharrlich betonten, als ›Zentraleuropa‹ bekannt sein sollte – zu Letzteren gehörten Kiš selbst, die

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