Joseph Anton
Ungarn György Konrád und Péter Esterházy, der kanadisch-tschechische Emigrant Josef ˇ Skvorecký sowie die großen polnischen Dichter Adam Zagajewski und Czesław Miłosz. Dies waren die Tage von glasnost , und zum ersten Mal hatten die Sowjets ›echte‹ Schriftsteller außer Landes gelassen – nicht die Pappnasen der Schriftstellergewerkschaft, sondern Autoren wie Tatjana Tolstaja. Da auch die bedeutendsten Schriftsteller der russischen Emigration, allen voran Joseph Brodsky, anwesend waren, ermöglichte die Konferenz eine Art Wiedervereinigung der russischen Literatur, deren Zeuge zu sein sie alle sehr bewegte. (Brodsky weigerte sich, Englisch zu reden, wünschte er doch, wie er sagte, für einen Russen unter Russen gehalten zu werden.) Als aber die zentraleuropäi schen Schriftsteller die Ansicht der Italiener, dass es bei der Literatur um Sätze ginge, ignorierten und zu einer leidenschaftlichen Denunziation der russischen Hegemonie ausholten, reagierten die Russen ziemlich empfindlich. Mehrere behaupteten, sie hätten noch nie von einer separaten zentraleuropäischen Kultur gehört. Tolstaja setzte hinzu, wenn sich Autoren wegen der Roten Armee Sorgen machten, könnten sie sich doch in ihre Fantasiewelt flüchten, wie sie es tat; dort wären sie völlig frei. Das kam nicht besonders gut an. Brodsky beteuerte in einer fast komischen kulturimperialistischen Formulierung, dass Russland im Begriff stünde, die eigenen Probleme zu lösen, und sobald es das geschafft habe, könne es sich auch der zentraleuropäischen Probleme annehmen. (Hier sprach derselbe Brodsky, der sich nach der Fatwa der Er-hat’s-mit-Absicht-getan-Partei anschloss.) Im Publikum stand daraufhin Czesław Miłosz auf, um Brodsky mit Stentorstimme zurechtzuweisen, und die etwa siebzigköpfige Schriftstellerschar erlebte das Spektakel zweier Giganten, beide Nobelpreisträger (und alte Freunde), die wütend aneinandergerieten und niemanden, der sie hörte, daran zweifeln ließen, welch große Veränderungen sich im Osten anbahnten. Es war, als sähe man eine Vorschau vom Untergang des Kommunismus, sähe die lebendig gewordene Dialektik der Geschichte, in Gegenwart ihrer internationalen Kollegen zu Wort gebracht und aufgeführt von den bedeutendsten Intellektuellen dieser Länder: ein Moment, den kein Mensch je wieder vergessen sollte, der das Glück gehabt hatte, ihn miterleben zu dürfen.
Falls sich, wie von Hegel behauptet, die Geschichte dialektisch entwickelt, dann bewiesen der Untergang des Kommunismus und das Erstarken des revolutionären Islam, dass der dialektische Materialismus – Karl Marx’ Umdeutung von Hegel und Fichte, der zufolge es sich bei dieser Dialektik um eine des Klassenkampfes handelte – bereits im Ansatz falsch war. Das Denken der zentraleuropäischen Intellektuellen im Queluz-Palast und die ganz anders geartete Philosophie des radikalen, so rasch an Macht gewinnenden Islam schmähten beide den marxistischen Gedanken, dass allein die Ökonomie von entscheidender Bedeutung sei und der ökonomische Konflikt, wie er im Klassenkampf zum Ausdruck komme, die beste Erklärung dafür böte, wie die Dinge funktionierten. In dieser neuen Welt, in der Dialektik der Welt nach der kommunistisch-kapitalistischen Konfrontation, würde offensichtlich werden, dass der Kultur ebenfalls entscheidende Bedeutung zukommen konnte. Indem sich die Kultur Zentraleuropas gegen das Russentum behauptete, brachte sie die Sowjetunion zu Fall. Und die Ideologie konnte, wie Ayatollah Khomeini und seine Kohorten nachdrücklich klarstellten, ebenfalls von größter Wichtigkeit sein. Die Kriege der Ideologie und der Kultur rückten in die Mitte der Bühne. Und zu seinem Leidwesen sollte sein Roman zu einem Schlachtfeld in diesen Kriegen werden.
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Er wurde zur Radiosendung Desert Island Discs eingeladen, in England eine größere Ehre als irgendein Literaturpreis. Zu den acht Musikstücken seiner Wahl, die er mit auf eine einsame Insel nehmen würde, gehörte ein Urdu-Ghasel, geschrieben von Faiz Ahmed Faiz, einem engen Freund seiner Familie, der zu den ersten Schriftstellern seines Bekanntenkreises zählte – ein öffentlicher Dichter, dessen Gedichte über die Teilung Indiens und Pakistans zu den besten gehörten, die je darüber geschrieben wurden, wie auch ein etwas verbitterter Schöpfer viel bewunderter Liebeslyrik. Von Faiz hatte er gelernt, dass es zu den Aufgaben eines Schriftstellers gehörte, ebenso öffentlich wie privat, ebenso
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