Joseph Anton
einem anderen Tag hätte er sich fragen können, wo die Fabrik stand, in der die vielen tausend amerikanischen Flaggen produziert wurden, die man jedes Jahr überall auf der Welt verbrannte. An diesem Tag aber wurde alles andere von einer einzigen Tatsache überschattet.
Fünf Menschen waren erschossen worden.
Rushdie, du stirbst, schrien die Demonstranten, und zum ersten Mal dachte er, dass sie recht haben könnten. Gewalt zeugte Gewalt. Am nächsten Tag kam es in Kaschmir zu weiteren Unruhen – in seinem geliebten Kaschmir, der ursprünglichen Heimat seiner Familie –; und noch jemand wurde getötet.
Blut verlangt Blut, dachte er.
*
In einem abgedunkelten Zimmer lag ein sterbenskranker Mann, dem sein Sohn von den Muslimen erzählte, die in Indien und Pakistan erschossen worden waren. Ein Buch sei schuld daran, erklärte der Sohn dem alten Mann, ein Buch, das sich gegen den Islam richtet. Wenige Stunden später kam der Sohn mit einem Dokument in der Hand zu den Studios des iranischen Fernsehens. Eine Fatwa, ein Edikt ist gewöhnlich ein offizielles Dokument, das unterschrieben, bezeugt und versiegelt wird, dies aber war nur ein Blatt Papier mit einem maschinengeschriebenen Text. Niemand hat je das offizielle Dokument zu Gesicht bekommen, falls es denn überhaupt existierte, doch der Sohn des sterbenskranken Alten sagte, dies sei der Wille seines Vaters, und niemand wagte daran zu zweifeln. Man reichte dem Nachrichtensprecher das Blatt, und er las es vor.
Am Valentinstag.
III
Das Jahr null
D ER BEAMTE VOM SPECIAL BRANCH hieß Wilson , der Nachrichtenoffizier Wilton, aber beide hörten auf Will, Will Wilson und Will Wilton. Das klang wie ein Gag aus dem Varietétheater, nur war an diesem Tag überhaupt nichts witzig. Ihm wurde gesagt, man hielte die Bedrohung gegen ihn für extrem ernst – er bekam ›Stufe zwei‹, was bedeutete, dass er in größerer Gefahr schwebte als sonst irgendwer in diesem Land, die Königin vielleicht ausgenommen – und da er von einer ausländischen Macht bedroht wurde, hatte er Anrecht auf Schutz seitens des britischen Staates. Dieser Schutz wurde ihm offiziell angeboten, und er hatte ihn akzeptiert. Man erklärte, dass man zwei Bodyguards, zwei Fahrer und zwei Wagen für ihn abstellte. Der zweite Wagen sei für den Fall, dass der erste eine Panne habe. Er möge bitte verstehen, dass angesichts der besonderen Umstände dieses Einsatzes und der unwägbaren Risiken nur Freiwillige als Personenschützer in Frage kämen. Niemand solle diese Aufgabe gegen seinen Willen übernehmen. Dann wurde ihm sein erstes Personenschutzteam vorgestellt: Stanley Doll und Ben Winters. Stanley gehörte zu den besten Tennisspielern der Polizeimannschaft. Benny war einer der wenigen schwarzen Offiziere im Special Branch und trug eine edle braune Lederjacke. Sie sahen beide überraschend gut aus und waren bewaffnet. Zum Branch gehörten nur die Besten der Metropolitan Police, die Doppelnull-Elite. Er hatte noch nie zuvor jemanden kennengelernt, der die Lizenz zum Töten besaß, und Stan und Benny durften um seinetwillen von dieser Erlaubnis Gebrauch machen.
Sie hatten ihre Waffe in Hüfthöhe an den Hosengürtel geclippt. Amerikanische Detectives trugen Schulterholster, doch sei dies ungünstig, wie Stan und Benny ihm demonstrierten, da die Waffe, zog man sie aus dem Schulterholster, einen Bogen von bis zu neunzig Grad zurücklegte, ehe sie auf ihr Ziel gerichtet war. Somit bestünde ein beträchtliches Risiko, zu früh oder zu spät zu schießen und die falsche Person zu treffen. Zog man dagegen aus der Hüfte, deutete die Waffe gleich in Schusslinie auf das Ziel, was die Treffergenauigkeit erhöhte. Dafür gab es ein anderes Risiko. Drückte man zu früh ab, schoss man sich in den Hintern.
Was sein Problem anging, waren Benny und Stan recht zuversichtlich. »So was kann nicht sein«, sagte Stan. »Einen britischen Bürger bedrohen. Geht einfach nicht. Das wird sich schon klären. Bleiben Sie ein paar Tage auf Tauchstation, sollen sich die Politiker drum küm mern.« – »Nach Hause können Sie natürlich nicht«, sagte Benny. »Kommt nicht in Frage. Gibt’s irgendeinen Ort, an dem Sie gern ein paar Tage verbringen würden?« – »Suchen Sie sich was Nettes aus«, sagte Stan, »dann kutschieren wir Sie hin, und Sie bleiben dort eine Weile, bis Sie wieder aus dem Schneider sind.« Er wollte an ihren Optimismus glauben. Die Cotswolds vielleicht, sagte er. Vielleicht irgendwo in dieser
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