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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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jetzt auch noch sterben wollen.«
    Die Polizei in der Küche verstummte. Marianne saß da, starrte ihn an und fühlte sich außerstande, ihn zu trösten. Er hatte nichts mehr zu sagen. Ihm blieb nur das Telefon und wie verrückt die Nummer zu wählen, alle dreißig Sekunden, das Wählen, der Freiton, dann Clarissas Stimme, die ihn bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Diese schöne, langbeinige, grünäugige Frau. Die Mutter seines sanften, lebhaften, liebevollen Sohnes. Es gab keine Nachricht, die zu hinterlassen sich gelohnt hätte. Es tut mir leid genügte nicht einmal ansatzweise. Er legte auf und wählte erneut, wieder ihre Stimme. Und wieder.
    Nach einer Ewigkeit kam Stan und sagte leise: »Dauert jetzt nicht mehr lang. Sie sind fast so weit.« Er nickte und wartete darauf, dass die Wirklichkeit zu ihrem tödlichen Schlag ausholte. Er hatte nicht gemerkt, dass er weinte, aber sein Gesicht war feucht. Immer wieder wählte er Zafars Nummer, fast, als besäße das Telefon okkultische Macht, als wäre es ein Quija-Brett, das die Verbindung zu den Toten herstellen konnte.
    Und dann ein unverhofftes Klicken in der Leitung. Jemand nahm am anderen Ende den Hörer ab. Eine Stimme sagte unsicher: »Hallo? Dad? Was ist los, Dad?«, fragte Zafar. »Draußen an der Tür steht ein Polizist und sagt, noch weitere fünfzehn Polizisten sind unterwegs.« Erleichterung überflutete ihn, und einen Moment lang brachte er kein Wort hervor. »Dad? Bist du da?« – »Ja«, antwortete er, »ich bin hier. Geht’s deiner Mutter gut? Wo wart ihr?« Sie hatten eine Aufführung des Schultheaters besucht, die länger als geplant gedauert hatte. Clarissa kam ans Telefon und entschuldigte sich. »Tut mir leid, ich hätte eine Nachricht hinterlassen sollen. Ich hab’s einfach vergessen. Entschuldige.«
    Die nach einem Schock typischen biochemischen Stoffe strömten durch seine Adern, und er wusste nicht, ob er glücklich oder wütend sein sollte. »Aber was ist mit der Tür?«, fragte er. »Warum stand die Tür auf und alle Lichter waren an?« Zafar war wieder am anderen Ende. »Waren sie gar nicht, Dad«, sagte er. »Wir sind gerade nach Hause gekommen, haben die Tür aufgemacht, das Licht angedreht, und dann kam auch schon die Polizei.«
    »Offenbar«, sagte Detective-Sergeant Stan, »hat es da einen bedauerlichen Fehler gegeben. Der Wagen, den wir losgeschickt haben, hat das falsche Haus observiert.«
    Das falsche Haus. Ein Polizeifehler. Nur ein dummer Fehler. Alles war in Ordnung. Die Gespenster zogen sich wieder zurück in den Besenschrank und unter die Dielen. Die Welt war nicht explodiert. Sein Sohn lebte. Die Tür zu Zimmer 101 ging auf. Anders als Winston Smith war er entkommen.
    Dies war der schlimmste Tag in seinem Leben.
    *
    Die Nachricht auf seinem Anrufbeantworter kam von der Autorin Margaret Drabble. »Rufen Sie an, wenn Sie können.« Als er dann anrief, machte sie auf ihre forsche, effiziente und sachliche Art einen Vorschlag, der ebenso unfassbar großzügig wie jener von Deborah Rogers war. Sie und Michael Holroyd, ihr Mann, der Biograf von Lytton Strachey, Augustus John und George Bernard Shaw, hatten ein Cottage in Porlock Weir an der Küste von Somerset renoviert. »Es ist gerade fertig«, sagte sie, »und wir wollten schon einziehen, als ich Michael gesagt habe, dass es vielleicht Salman gefallen würde. Sie können es ohne weiteres für einen Monat oder so haben, wenn Sie mögen.« Das Geschenk eines Monats, die Chance, so lange an einem Ort bleiben zu können, war für ihn derart kostbar, dass es ihm die Sprache verschlug. Einen Monat lang würde er ein Bewohner Porlocks sein. »Danke«, sagte er völlig unzureichenderweise.
    Porlock Weir lag ein wenig westlich des eigentlichen Dorfes Porlock, eine winzige Siedlung am Rand des eigentlichen Hafendorfes. Das Cottage war eine riedgedeckte Schönheit und ziemlich groß. Eine Journalistin von The New York Times , die Drabble dort ein Jahrzehnt später interviewte, nannte das Haus »so etwas wie eine Vision des Bloomsbury-Zirkels, ebenso spleenig wie kultiviert, die Zimmer in verschiedenen Farben – minzgrün, rosenfarben, lila oder in toskanischem Gelb –, dazu verblichene Teppiche und überall, wohin man auch sieht, Bücher und Bilder«. Es fühlte sich großartig an, wieder ein Haus voller Bücher zu betreten. Er und Marianne waren zwei Schriftsteller, denen man zeitweilig das Haus zweier anderer Schriftsteller schenkte, und das fand er über die Maßen tröstlich. Im

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