Josepsson, Aevar Örn
nur den einen leiblichen Bruder, aber zahlreiche Brüder in Christo. Dieser Mann am Telefon also, von dem ich bald herausfand, dass er Úlfur hieß – was für ein außerordentlich passender Name für einen Ganoven und Übeltäter –, er sagte, dass Ari ebenfalls dort bei Ólafur gewesen war, und zwar etwas später in derselben Nacht.«
»Und als Nächstes verlangte er Geld, nicht wahr? Für sein Schweigen?«
»Ja. Er wollte zehn Millionen, sonst würde er sich an die Polizei wenden und ihnen alles erzählen. Ich sagte ihm, dass er das gerne tun könne, ich hätte weder etwas zu verlieren noch zu verbergen. Da lachte er nur und erklärte, er würde sich später wieder melden. Als ich mich daraufhin telefonisch mit Ari in Verbindung setzte, stellte sich heraus, dass dieser Mann ihn ebenfalls angerufen und weitere zehn Millionen von ihm verlangt hatte.«
»Und Ari hatte tatsächlich in dieser Nacht Ólafur auch einen Besuch abgestattet?«
»Ja. Aber deine Ausdrucksweise ist in seinem Fall unpassend, denn Ólafur war ja bereits tot, als Ari eintraf.«
*
»Wie bist du in die Wohnung gekommen?«, fragte Árni. »Wenn Ólafur schon tot war, wer hat dir dann die Tür aufgemacht?« Die leichten Zuckungen in Aris Gesichtsmuskulatur ließen darauf schließen, dass er sich im Augenblick alles andere als wohl fühlte.
»Ich habe unten geklingelt, und jemand hat mir aufgemacht. Ganz einfach.«
»Und wie erklärst du dir das? Warum in aller Welt sollte ich dir das glauben?«
»Du kannst glauben, was du willst«, sagte Ari entnervt, »aber so ist es gewesen. Ich habe geklingelt, jemand hat geöffnet, und ich bin im Aufzug nach oben gefahren. Die Tür zu Ólafurs Wohnung stand halb auf, ich klopfte an und ging hinein. Dort saß er zusammengekrümmt und blutüberströmt in dem Sessel, und in seinem Bauch steckte ein enormes Messer. Da war … da war überall Blut. Ich … Mir wurde schlecht, und ich sah mich nach dem Badezimmer um. Als ich es gefunden hatte, musste ich mich übergeben, und dann bin ich wieder gegangen.«
»Weshalb bist du gegangen? Weshalb hast du nicht den Notruf verständigt?«
»Ich …« Ari senkte den Blick und räusperte sich ein paarmal. »Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich … ich hatte Angst, dass … Ich wusste, dass mein Bruder kurz zuvor dort gewesen war, und ich hatte Angst, dass …«
Árni nickte verständnisvoll. »Wieso und weshalb?«, fragte er dann.
Ari schrak zusammen. »Was meinst du damit?«
»Wieso wusstest du, dass dein Bruder kurz zuvor dort gewesen war, und weshalb glaubtest du, dass er Ólafur das angetan haben konnte?«
»Äh, ja, Ólafur hatte mich angerufen und mir gesagt, dass Magnús unterwegs zu ihm sei. Er fragte, ob ich nicht auch vorbeischauen könnte. Ich war nicht sonderlich erpicht darauf, es war schon sehr spät, und der nächste Tag war ein Arbeitstag. Aber ich erklärte mich schließlich trotzdem bereit, zu ihm zu kommen.«
»Was wollte Ólafur? Was wollte er von dir?«
Ari war leichenblass, doch hier und da blühten rote Flecken in seinem Gesicht. »Das, also das war eigentlich eher unklar. Er sagte, dass er mich treffen müsse, wegen einer wichtigen, ja, wegen einer wichtigen Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete – ja. Er versprach, mir das zu erklären, wenn ich käme, aber …«
Árni reichte ihm ein Papiertuch und Ari trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
»In Ordnung«, sagte Árni, »aber wieso gingst du davon aus, dass dein Bruder etwas damit zu tun hatte?«
»Ich ging nicht davon aus, ich befürchtete nur, dass es so sein könnte. Ich habe nicht sehr klar denken können, das war ein furchtbarer Schock, und ich … ja, ich bin einfach nach Hause gefahren. Lag wach im Bett und überlegte, was ich machen sollte, ob ich Magnús anrufen sollte, die Polizei anrufen sollte – oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Am Ende beschloss ich, gar nichts zu tun. Es in die Hände des Herrn zu legen …«
»Und was geschah als Nächstes?«
»Als Nächstes rief dieser Mann an, dieser Úlfur. Es war ein paar Tage später. Ich wusste da natürlich noch nicht, wie er hieß, aber … ja. Er sagte, er habe mich gesehen, und Magnús auch, und er sagte, dass er wüsste, was Ólafur widerfahren war. Er sagte, er könne uns davor bewahren, dass sich die Leute die Mäuler über uns zerrissen, und womöglich sogar vor dem Gefängnis. Er fragte, ob es uns in unseren Positionen nicht etwas wert sei, dass nicht herauskäme, dass wir da in der Wohnung
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