Josepsson, Aevar Örn
herniederkommen wird«, sagte der Meister. »Wir wissen, dass für uns, die wir glauben, für uns, die wir wissen, dass ER zu uns zurückkehrt, neue Zeiten anbrechen werden. Halleluja! Und wir wissen, dass Satan schäumend vor Wut und zähnefletschend den ganzen Erdkreis nach denen absucht, die er vom Leben zum Tode befördern kann, denen er die Hoffnung nehmen kann, bevor ER kommt! Denn Satan weiß, dass er hier auf Erden viele Helfershelfer hat! Brüder und Schwestern im Herrn, der Teufel hat viele Helfershelfer auf dieser Welt, ja sogar auch in diesem Land des Eises! Helfershelfer, die uns mit allen Mitteln daran hindern wollen, der Versprechungen des lebendigen Gottes teilhaftig zu werden. Halleluja! Denn so arbeitet Satan, er setzt alles daran, um uns auf Abwege zu locken, uns den Blick zu verstellen, den Blick auf das ewige Leben. Aber wir wissen auch, dass es einen Höheren gibt, der stärker ist als er, wir wissen, dass es Verzweiflung ist, die Satan vorantreibt, denn das Gottesreich auf Erden naht! Halleluja! Und-nun-alle-miteinander: Ameen!«
Von dieser erbaulichen Predigt bekam Ólafur außer den letzten Worten so gut wie gar nichts mit. Er versuchte, der Aufforderung des Meisters nachzukommen, doch das klappte auch diesmal nicht. Die Zunge wollte ihm nicht gehorchen, und die Lippen, die Stimmbänder, die Kiefer schafften es nicht, in das Ameen einzustimmen, wie der Meister gebot. Seine Hand weigerte sich, nach dem Glas auf dem Tisch zu greifen. Wie gern hätte er sich jetzt ein Schlückchen Gin zu Gemüte geführt, sein Durst wurde immer schlimmer, während der Meister nicht abließ, Satan zu verfluchen und den Herrn zu preisen und ein Ameen nach dem anderen einzufordern. Nur eines war seltsam: Der Meister schien auf einmal leisere Töne anzuschlagen. Und je weiter die Predigt fortschritt, desto auffälliger wurde auch sein Nuscheln, was vielleicht noch ungewöhnlicher war.
Ólafur schüttelte den Kopf, doch der rührte sich nicht. Der Fernseher muss kaputt sein, dachte er, oder er ist irgendwie falsch eingestellt. Die Fernbedienung lag vor ihm auf dem Tisch, war aber ebenso unerreichbar wie das Glas. Das verwirrte ihn. Er müsste doch die Fernbedienung zu fassen bekommen können, oder das Glas, beides war in Reichweite. Und doch …
Das ist wirklich komisch, dachte Ólafur und beobachtete, wie sich der Tisch langsam, aber sicher entfernte und gleichzeitig den Fernseher und die grauen Wände vor sich herschob. Auch der grüngelbe Teppichboden streckte sich, das Wohnzimmer dehnte sich und schrumpfte dann wieder zusammen, die ganze Welt schien in Wellen zu wallen. Er fuhr sich über die Lippen, ohne die Zunge zu bewegen. Der Durst war unerträglich und der Meister unverständlich geworden.
Da stimmt etwas nicht, dachte Ólafur. Da stimmt ganz sicher etwas nicht. Und dann erinnerte er sich an das Messer. Sein Kinn sank unwillkürlich auf die Brust. Richtig, dachte Ólafur, das Messer. Ich muss da was mit diesem Messer machen. Ich hab solche Lust auf Beeren. Blaubeeren. Ich muss telefonieren. Ich will Blaubeeren. Ich muss pinkeln. Und anrufen …
»Halleluja!«, rief der Meister auf einmal laut und deutlich.
Gut, dass ich nicht meine beste Hose anhabe, dachte Ólafur, der vier Hosen besaß, alle waren grau.
»Eehrrre sei Gott!«, sagte der Meister.
Ameen, dachte Ólafur.
Draußen wehte eine leichte Brise aus südlichen Richtungen.
II
Juli 2006
1
Freitag
Die Wohnblocks im Breiðholt-Viertel waren keineswegs alle gleich schlimm, dachte Stefán, als er auf den Parkplatz vor dem Block Krummahólar zwölf einbog. Er selber hatte eigentlich nur schöne Erinnerungen an die ersten Jahre des Zusammenlebens mit Ragnhildur in einem mehrstöckigen Haus an der Lönguhlíð. Das war fünfunddreißig Jahre her, und ihre drei Kinder hatten sich dort wohl gefühlt und viele Freunde gehabt. Einige von diesen Hochhäusern in Breiðholt sahen ganz passabel aus, sie machten einen familienfreundlichen und geradezu wohnlichen Eindruck, sogar an grauen Regentagen wie diesem. Aber das galt nicht für alle, und vor allem nicht für Krummahólar zwölf. Es war ein viel zu grauer, viel zu großer, viel zu abweisender und monströser Betonklotz, an dem allenfalls ein paar wenige Technokraten ihr Wohlgefallen haben konnten.
Stefán stieg aus und betrachtete das Monstrum. Zehn Etagen, auf jeder neun Wohnungen. Vorne Asphalt, und hinter dem Haus wahrscheinlich ein Stückchen Rasen mit zwei Schaukeln und einem Sandkasten … Er
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